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Ulrich Seibert. Germering

DIE LINKE muss eine Vision liefern von einer lebenswerten Zukunft

Liebe Genossinnen, liebe Genossen, euer Aufruf zur Strategiedebatte freut und erschüttert mich zugleich. Er freut mich einerseits, weil es zeigt, dass ihr offenbar den Wunsch und den Mut habt, die Basis um ihre Meinung zu fragen. Bisher hatte ich e­her den Eindruck, als ob Basisinput euch eher stört, weil vom Tagesgeschäft ablenkt. Es erschüttert mich gleichzeitig, weil ich glaube, angesichts der riesigen Probleme und Krisen, auf die wir zweifelsohne zusteu­ern, eine gewisse Hilflosigkeit in der Parteispitze zu verspüren - und ein Captain, der angesichts eines Sturms seine Mannschaft um Rat fragt, ist ein nicht wirklich ermutigender Anblick.

Nun, ich will gerne konstruktiven Input geben, sollte der nun angenommen werden oder auch nicht. Voran­schicken möchte ich nur, dass meine Wahrnehmung selbstverständlich subjektiv ist und sich daher nicht unbedingt mit der Wahrnehmung anderer Genossen und Genossinnen decken wird. Ich will meine Anre­gung überschreiben mit ...

Vision und Perspektive!

Wenn man sich in der Geschichte ansieht, wer in Krisensituationen die Oberhand - also die überwiegende Zustimmung der Bevölkerung - gewonnen hat, dann waren das stets exponierte Menschen, die eine Bot­schaft hatten, eine Vision von der Zukunft, eine Vision, der die Menschen folgen konnten, weil sie darin für sich eine Perspektive entdecken konnten. Das war in der Vergangenheit definitiv nicht immer eine hu­mane oder empathische Vision, zumal nicht in Deutschland, aber es war eine Vision.

Leider ist eine Vision genau das, was den LINKEN fehlt. Die LINKE ist zu einer "reaktionären" Partei geworden. Man verzeihe mir dieses provokante Wortspiel, "reaktionär" ist hier selbstverständlich nicht im herkömmlichen Sinne zu verstehen. Gemeint ist damit lediglich, dass die LINKE - auch von Mitgliedern wie mir!! - wahrgenommen wird als eine Partei, die stets nur reagiert auf Vorgänge oder Themen, die von anderen - zumeist politische Gegner - ausgehen. Sicherlich kommen auch eigene Vorschläge aus der LIN­KEN, aber nie im großen Kontext, sondern - wahrgenommen! - immer nur klein-klein. Sicher ist z.B. die Einführung des Mindestlohns im Wesentlichen ein Verdienst der LINKEN, doch eine deutlich vernehm­bare Antwort auf das neoliberale System selbst wurde bislang noch nie gegeben. Mit anderen Worten, die LINKE agiert nicht. Sie setzt (in der öffentlichen Wahrnehmung!) nicht selbst die Themen, die die Men­schen bewegen, das überlässt sie zumeist Anderen. Wir haben es in allen Wahlkämpfen unterlassen, den Menschen eine echte Alternative anzubieten, weil wir immer nur versuchen, an den Symptomen herumzudoktom: Altersarmut, zu hohe Mieten, Niedriglohn, Umweltverschmutzung, etc.

Ich gebe euch ein Beispiel für den Unterschied zwischen Reaktion und Vision: Wir beteiligen uns gerne an Debatten um Kfz-Antriebe, elektrisch ("pfui", seltene Erden, Ausbeutung im Kongo, CO2-Desaster) oder fossile Brennstoffe ("noch pfuier!"), werfen vielleicht mal die (ebenfalls nicht unproblematische) Brenn­stoffzelle ein und reagieren auf diese Weise in der Diskussion lediglich. Aber wir legen kein eigenes Kon­zept, keine Vision auf den Tisch. Warum nicht? Es gibt solche Visionen, wir bräuchten noch nicht einmal unsere eigene Fantasie zu bemühen, es gibt sie an anderen Orten oder es gab sie zu anderen Zeiten! Warum nicht das herkömmliche System von öffentlichem versus Individualverkehr selbst infrage stellen und von Grund auf erneuern? Warum nicht über etwas Neues nachdenken, das nicht nur die klimapolitische Zielset­zung erreichen könnte, sondern zugleich auch das Beste aus beiden Welten - öffentlichem und Individual­verkehr - vereint? Science Fiction-Autoren und Filmemacher, aber auch Wissenschaftler haben solche Konzepte längst erdacht, heute verfügen wir auch über die Technologie, diese umzusetzen. Bereits in den 50er Jahren gab es die Idee, ein Schienensystem in Straßen zu integrieren, das nicht nur Stromversorgung für Fahrzeuge liefern, sondern auch den Anschluss an ein Verkehrsleitsystem gewährleisten kann. Nervige Staus (im Individualverkehr) könnten damit ebenso einfach beseitigt werden wie Unzuverlässigkeit, man­gelnde Flexibilität oder Unbequemlichkeit (Haltestellen zu weit weg von Start-/Zielort und ungünstige Fahrpläne) im öffentlichen Verkehr. Andere Länder wie Schweden experimentieren bereits mit solchen Technologien, bei uns hat noch nicht einmal die entsprechende Diskussion begonnen. Wäre es wirklich so schwer für die LINKE, solche Diskussionen nicht nur anzustoßen, sondern diese auch zu dominieren? Al­les, was es dazu braucht, ist ... das Existierende infrage zu stellen bzw. es daraufhin zu überprüfen, ob es noch zeitgemäß ist.

Wir versuchen, wie gesagt, die Symptome abzumildern, die eigentliche Krankheit gehen wir dagegen nicht an - und diese Krankheit heißt im Wesentlichen: ungezügelter Kapitalismus. Nicht, dass wir uns dieser Krankheit nicht bewusst wären, die parteiinternen Diskussionen um sie sind quasi allgegenwärtig und sie drohen bisweilen, tiefe Gräbern innerhalb unserer Partei aufzuwerfen. Auch das noch! Als ob es gerade an­gesichts dieser Krankheit nicht essenziell wäre, sich auf die Gemeinsamkeiten zu konzentrieren anstatt sich auf das Trennende zu fokussieren! Viele kleine Splittergruppen erreichen gar nichts, eine Lektion, die links-fortschrittliche Kräfte in den letzten 100 Jahren in Deutschland leider noch nie begriffen haben!

Wenn ich an diverse Infostände, Diskussionen mit fremden wie befreundeten Mitbürgern im "real life" ebenso wie in "sozialen Medien" Revue passieren lasse, dann bleibt ein Filtrat zurück, eine Antwort, die immer wieder gegeben wurde: "Was wollt ihr denn eigentlich? Alles, was euch einfallt, ist ,enteignen‘. Das fehlt uns gerade noch, eine SED-Nachfolgepartei, die die DDR wiederauferstehen lassen möchte! " Viel­leicht ist das zu subjektiv, vielleicht bekommen andere Genossen dieses Statement selten oder nie zu hören, ich höre es oft, insbesondere aus meinem persönlichen Umfeld. Die Bevölkerung fasst kein Vertrauen in eine Partei, die immer äußert, was sie nicht will, aber selten, was sie erreichen will.

Macht euch doch mal die Mühe und seht nach, welche gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Visionen die LINKE bislang geliefert hat! Ich habe das getan und habe gefunden ... so gut wie nichts. "De­mokratischer Sozialismus" ist so eine Vision, sie steht geschrieben im Erfurter Parteiprogramm. Doch was genau darunter zu verstehen ist oder auf welchem Wege der demokratische Sozialismus erreicht werden soll, darüber findet sich kaum etwas. Wollen wir Marktwirtschaft oder Planwirtschaft? Wie steht es mit dem Anteil an Liberalismus (nicht nur ökonomischem, auch politischem, religiösem, gesellschaftlichem, individuellem)? Soll Produktiveigentum enteignet werden oder erst einmal nur reguliert? Wie verträgt sich Sozialismus mit einem globalisierten Umfeld, wie mit einer neoliberal ausgerichteten EU? Stehen wir für gesellschaftliche Evolution oder sehen wir unser Heil in einer Revolution? Solche Antworten gibt die Partei nicht. Daher können ihre Mitglieder bei solchen Fragen seitens der Bevölkerung entweder nur fantasieren oder ratlos die Schultern zucken.

Das "Gespenst", das einst in Europa umging, hat sich durch die Geschichte und deren Wahrnehmung längst in ein Schreckgespenst verwandelt. Solange wir nicht proaktiv klarmachen, dass unsere Vision nichts von diesem Schreckgespenst beinhaltet, werden wir stets mit diesem identifiziert werden. Und wer uns fürchtet, wählt uns auch nicht. Man sollte Verallgemeinerungen vermeiden, aber im Großen und Ganzen ist "der Deutsche" durchaus eine gar furchtsam Kreatur. Dem sollten wir als Partei Rechnung tragen.

Seit vielen Jahrzehnten war die Bevölkerung angesichts von Klimakatastrophe oder der immer ungleiche­ren Einkommensverteilung nicht mehr so empfänglich für eine Systemdiskussion wie heute. Selbst die EZB und die EU-Kommission haben mittlerweile erkannt, dass sie durch die einseitige Fokussierung auf Monetarismus in eine Sackgasse geraten sind. Die Systemdiskussion muss JETZT geführt werden! Und die LINKE muss dazu die entscheidenden Impulse setzen, will sie in der Politik eine größere Rolle spielen als zur Zeit. Das kann sie aber nur, wenn sie explizit klarstellt, welches System sie an die Stelle des Neolibera­lismus setzen möchte, wie sie verhindern möchte, dass dadurch die Wirtschaft zusammenbricht. Und sie muss erklären, was dies für die Bürgerinnen und Bürger bedeutet und wie und warum sie davon nur profi­tieren können. Sie muss eine Vision liefern von einer lebenswerten Zukunft, auf die frau/man sich freuen kann, eine Zukunft, die nicht nur Perspektiven bietet für die "Nation", sondern auch die Be­lange des Auslands respektiert, die Fluchtursachen wirklich bekämpft, die Kriege und Konflikte be­endet, die Raum schafft für internationale Solidarität und Kooperation.

Eine solche Vision zu formulieren, ist jetzt die Aufgabe der Parteiführung, nein, der gesamten Partei! Und ich werde gern mein Scherflein dazu beitragen, falls ihr meine Anregung aufgreifen und meine Mitarbeit annehmen wollt.

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