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Forum Demokratischer Sozialismus

Beitrag zur Strategiedebatte

Alles verändert sich. Wenn wir uns nicht auch verändern, werden wir nicht mehr gebraucht. Viele neue Mitglieder sind zu uns gekommen, langjährige Mitglieder sind bewusst ausgetreten, große gesellschaftliche Umbrüche seit der Verabschiedung des Parteiprogramms und eine völlig veränderte politische Landschaft und nicht zuletzt dramatische Verluste für die LINKE bei den meisten vergangenen Wahlen. Wir wollen eine starke demokratische sozialistische Partei. Deswegen wollen wir mit den Mitgliedern unsere Partei weiterentwickeln.

Wie? Dazu haben wir immer wieder Vorschläge unterbreitet und erlauben uns, diese zu erneuern. Eine sinnvolle Strategiedebatte lässt sich nicht auf wenige Konferenzen begrenzen - sie muss ein steter Debatten- und Entwicklungsprozess unserer politischen Praxis sein, um unsere Ziele kurz- mittel- und langfristig zu erreichen.

DIE LINKE muss – will sie gestaltend auf die Entwicklung Europas und der Gesellschaft hierzulande stärker Einfluss nehmen – sich selbst hinterfragen, gesellschaftliche Debatten in sich aufnehmen und sich so einer ständigen Erneuerung unterziehen. Sie muss über ihren Gestus im öffentlichen Auftreten ebenso nachdenken, wie über die konkrete Ansprache. Die Herausforderung ist größer als die Fragen, über die in der Partei DIE LINKE vordergründig heftig diskutiert wird: Ob Partei in Bewegung oder Sammlungsbewegung, ob populistische Antworten oder ernsthafte Problembewältigung, ob konkrete Konzepte oder Plakate, ob Republik Europa oder mehr Kompetenzen für die nationalen Parlamente, ob Digitalisierung Gefahr oder Chance bedeutet, ob Latte Macchiato oder Bierstammtisch.

Die Vertretung organisierter Neonazis in einer Fraktion im Deutschen Bundestag ist eine Zäsur in Deutschland seit 1990. Diese Zäsur bringt eine zunehmende Verrohung der Sprache, in der politischen Auseinandersetzung und in der Gesellschaft mit sich, den Verfall von kulturvoller Debatte, eine zunehmende chauvinistische und rassistisch aufgeladene Gewalt auf den Straßen gegen Schwächere, Geflüchtete, soziale wie gesellschaftliche Randgruppen und das Zurückdrängen positiver gesellschaftlicher Diskussionsprozesse und Entwicklungen bspw. beim Thema Gender Mainstreaming. Die Ellenbogengesellschaft mutiert zu einer (zu)schlagenden und ausgrenzenden Gesellschaft. Der Tritt geht dabei stets nach unten. Diese Zäsur bedroht die Demokratie und Vielfalt unserer Lebensweisen. Darüber hinaus gibt sie erzkonservativen Auffassungen Auftrieb, wie sich gerade an der Auseinandersetzung um die Abschaffung des § 219a StGB zeigt.

Nicht erst seit den jüngsten Fluchtbewegungen nehmen die Kräfte zu, die ein Auseinanderbrechen sozialer und gesellschaftlicher Strukturen forcieren und zur Auflösung gesellschaftlicher Milieus wie wir sie kannten beitragen. In ost- wie westeuropäischen Nationalstaaten wird ultrarechte Politik zunehmend salonfähig. In Deutschland regieren Christ- und Sozialdemokraten in Richtung Weiter so, obgleich sich die SPD nunmehr auf den Weg gemacht hat, sich selbst und neu zu finden. Für unsere Partei kann dies Chance als auch Risiko bedeuten.

So notwendig und wichtig die Auseinandersetzung mit anderen, gerade rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen auch ist, so klar müssen wir uns selbst Fragen stellen. Warum ist es uns bislang nicht gelungen, ganz unabhängig davon eine ernsthafte Debatte über Defizite in unserer eigenen Partei zu führen? Warum werden wir weder als die demokratische noch als die soziale oder friedliche Alternative wahrgenommen? Warum wird uns zu wenig zugetraut, die Zukunft zu gestalten? Warum ist unsere inhaltliche und personelle Verankerung in ländlichen Gebieten gesunken, an Stellen gar nicht mehr vorhanden? Warum finden unsere Konzepte für Umverteilung von Einkommen und Vermögen, für die Verhinderung und Bekämpfung von Kinderarmut, für bessere Lebensbedingungen für Alleinerziehende und für Mehrelternschaft so wenig öffentlichen und gesellschaftlichen Widerhall? Warum fühlen sich unsere Kommunalpolitiker*innen seit Längerem von ihrer Partei alleine gelassen?

Seit dem Erfurter Programmparteitag 2011 sind viele Menschen neu in unsere Partei eingetreten. Seit dem hat sich aber auch die Welt grundlegend geändert. Eine dem Klimawandel geschuldete Katastrophe folgt der nächsten. Die Digitalisierung durchdringt alle Lebensbereiche. Mehr und mehr Menschen müssen sich aus dem globalen Süden auf den Weg in den Norden machen, die Briten verlassen die Europäische Union. Krieg ist alltäglich geworden.

Weltweit vergrößert sich die soziale Spaltung. Die Lebens- und Arbeitswelten waren und sind – bspw. durch Globalisierung, Digitalisierung und einen Wandel des kapitalistischen Systems hin zu einem finanzmarktgetriebenen Kapitalismus – in hohem Maße Veränderungen und einem

Anpassungsdruck ausgesetzt. Diese Prozesse haben wiederum massive Auswirkungen auf soziale Beziehungen und Milieus. Auch hierzulande. Prekäre Arbeit, Leiharbeit, immer erdrückendere Sanktionen in den Sozialsystemen, Bildungsabbau und ein Ausverkauf der öffentlichen Daseinsvorsorge prägen den Alltag von Millionen Menschen. Diese kämpfen jeden Tag hart um Erreichtes und leider auch Unerreichbares. Wenn sich die Welt um uns herum einem solch tiefgreifenden Wandlungsprozess unterzieht, können und dürfen wir nicht so bleiben, wie wir es in der Vergangenheit waren.

Nur wenn wir neue programmatische und organisatorische Antworten finden, uns mit dem gesellschaftlichen Wandel auseinandersetzen, werden wir auf Dauer überlebens-, motivations- und mehrheitsfähig sein. Die Herausforderungen sind gewaltig. Deshalb muss sich die LINKE in eine innere Transformation begeben. Wir wollen linke Politik demokratisch, sozial, diskursorientiert und pluralistisch neu definieren.

Wir wollen die Fenster aufstoßen und offen miteinander in den Diskurs treten. Dabei geht es um einen neuen Zugang zu dieser Gesellschaft und den Menschen, die in ihr leben, arbeiten, lieben und kämpfen. Es geht um Erweiterungen und Aktualisierungen unserer Programmatik, mit denen wir auf Veränderungen der Welt antworten.

Was ist unsere Antwort auf die Unregulierbarkeit internationaler Kommunikations- und Informationsplattformen, auf die Beeinflussung ganzer Diskurse durch Computerprogramme und die kommerzielle und entmündigende Verwertung unserer intimsten Daten?

Was ist unsere Antwort auf die kommende Roboterisierung ganzer Produktions- und anderer Arbeitsfelder? Und welchen Arbeitsbegriff setzen wir den veränderten Bedingungen entgegen? Hier beginnen bereits Debatten, bspw. zu einer Robotersteuer, an welcher sich auch die LINKE beteiligen und eigene Vorschläge erarbeiten muss.

 

Wir schlagen deshalb folgende Maßnahmen vor:

1. Der Parteivorstand setzt eine Programmkommission ein. Diese soll zu mindestens 50% aus Mitgliedern bestehen, die nach der Beschlussfassung des Erfurter Parteiprogramm in die Partei eingetreten sind. Die Programmkommission soll in Veranstaltungen, Foren und Einzelgesprächen prüfen, an welchen Stellen es Veränderungsbedarf am Parteiprogramm gibt und ob eine Überarbeitung oder Neuerarbeitung eines Programms die angemessene Reaktion wäre.

2. Es wird ein Campus Parteireform als ständige Einrichtung geschaffen, der zusätzlich ein Forum für themenbezogenen Debattenaustausch bildet. In einem ersten Schritt wird – vor allem onlinebasiert – ein Ort geschaffen, in dem Debattenbeiträge zu den beschriebenen Fragen veröffentlicht und debattiert werden. Beiträge werden halbjährlich in einem Sammelband zusammengestellt, kommentiert, zusammengefasst und online wie offline zur Verfügung gestellt.

3. Einmal im Jahr wird ausgehend von dem Sammelband eine gemeinsame Tagung von Parteivorstand, politisch Aktiven und Gewählten auf kommunaler, regionaler, Bundes- und Europaebene, Wissenschaftler*innen, Künstler*innen, Expert*innen und weiteren Mitgliedern der Partei durchgeführt, in der konkrete Vorschläge diskutiert und das weitere Vorgehen zur Umsetzung beraten wird.

Im Rahmen des Campus Parteireform sollen unter anderem folgenden Fragen debattiert werden:

  • Wie kann die Zukunft von Partei(systemen) aussehen? Dabei soll sich mit Fragen der Zukunft von Parteien, ihren sich verändernden Einflusssphären und Aufgaben in Gesellschaften sowie ihrer Finanzierung auseinandergesetzt werden sowie vor allem auf die innerparteiliche Demokratie und Debattenkultur bezogene Modelle analysiert und debattiert werden. Hier muss auch diskutiert werden, wie sich Partei und Bewegung in der Gegenwart ergänzen können und was die unterschiedlichen Aufgaben von Partei und Bewegung in der Zukunft sind.
  • Wie können Mitglieder gewonnen werden und neue Organisationsmodelle aussehen? Wie gestalten wir eine lebendige Partei? Diese Achse soll Strategien zur Mitgliedergewinnung und Mitgliederpflege, sowie eine Neujustierung unserer Organisationsmodelle anhand realer Lebenswelten diskutieren und Schlussfolgerungen erarbeiten. Dabei soll ein Schwerpunkt daraufgelegt werden, welche Organisationsmodelle eine Einbeziehung Alleinerziehender ermöglichen und die Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Politik erleichtern und wie im ländlichen Raum lebende Genoss*innen mit schlechter Anbindung an regionale Parteistrukturen besser einbezogen werden können.
  • Welche gesellschaftlichen Veränderungsprozesse finden statt und welche Gruppen und Milieus sind für linke Politik ansprechbar? Eine sich in ihren Grundwerten verändernde gesellschaftliche Debatte bietet neue inhaltliche und personelle Anknüpfungspunkte für linke Politik. Hier soll der Versuch unternommen werden, relevante gesellschaftliche Entwicklungsprozesse neu oder in verändertem Gewand die politischen Debatten zu bestimmen.
  • Was macht die Linke in Europa? Die Entwicklung und Themensetzung unserer europäischen Partnerparteien, aber auch sozialer Bewegungen sind ein unermesslicher Erfahrungsschatz und gleichzeitig Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen in Europa. Daraus wollen wir hier Schlussfolgerungen für das zukünftige Agieren ableiten und uns in einem regen Austausch über die besten Strategien und Konzepte begeben.
  • Warum nicht ein Labor der Zukunft? Hier sollen in enger Zusammenarbeit mit der Programmkommission Themen aufgeworfen und debattiert werden, die noch keinen ausreichenden Eingang in unsere Programmatik gefunden haben. Denkbar wären hier Globalisierung, Klimawandel, Digitalisierung, Verteidigung der Demokratie, weltweite soziale Gerechtigkeit und Vielfalt der Lebensweisen.
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