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Benjamin-Immanuel Hoff

Die Route wird neu berechnet

Haltung zeigen – Linke Antworten auf die Fragen der Zeit formulieren – Vertrauen zurück- gewinnen

Einleitung

Es gehort zur historischen DNA der politischen Linken, dass sie bei grundsätzlicher Einigkeit uber den "kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" (Marx 1844: 378) - grundsätzliche Differenzen sowohl uber die einzuschlagende Route als auch uber die konkrete Zielbestimmung hat.

Bis heute hält sich hartnäckig der Irrtum, dass der Eduard Bernsteins beruhmter Satz aus einer Literaturbesprechung, "das, was man gemeinhin Endziel des Sozialismus nennt, ist mir nichts, die Bewegung alles [...] eine "Ableugnung jedes bestimmten Zieles der sozialistischen Bewegung" (Bernstein 1899: 169f.) implizieren wurde. Das Gegenteil ist der Fall, wie diejenigen erkennen konnten, die sich mit den Schriften Bernsteins2 selbst oder auch nur mit dem lesenswerten Schlusskapitel seiner Schrift "Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie" vertraut machen. Bernstein fuhrt dort aus, dass er am zitierten Satz "vom Endziel, soweit sie die Auslegung zulässt, dass jedes als Prinzip formulierte allgemeine Ziel der Arbeiterbewegung fur wertlos erklart werden soll, gern preisgebe". Dennoch hält er daran fest, dass die Offenheit geschichtlicher Abläufe und gesellschaftlicher Entwicklungen alle "Theorien vom Ausgang der Bewegung [die] uber ein solches allgemein gefasstes Ziel [hinausgehen, mit dem] die prinzipielle Richtung und der Charakter der Bewegung bestimmt, [...] zu irgend einer Zeit sich dem wirklichen theoretischen und praktischen Fortschritt der Bewegung hindernd und hemmend in den Weg stellen" wird (a.a.O. 171).

Doch allein der sogenannte Revisionismus-Streit zwischen Luxemburg und Bernstein zeigt, dass die Linke schwierige Phasen stets dann durchlebt, wenn sie entweder keinerlei Abweichungen von der Route zulässt oder das Ziel gänzlich aus den Augen verliert, wenn die Reisegeschwindigkeit dem Muster "Ein Schritt vorwarts, zwei Schritte zuruck" folgt oder wenn die Fahrt erst gar nicht angetreten wird, weil keine Einigkeit daruber hergestellt werden kann, wer am Steuer sitzen soll.

Auch wenn auf DIE LINKE augenscheinlich das zuletzt genannte Dilemma zuzutreffen scheint, geht das von mir vorgelegte Papier von einem Bundel ebenso grundsätzlicher wie dennoch losbarer Probleme in strategischer wie strukturell-organisatorischer Hinsicht aus. Ich mochte mit diesen Uberlegungen Akteurinnen und Akteure unterschiedlicher Standortpunkte innerhalb der LINKEN ansprechen. All jene, die mit mir die gleiche Sorge um die Zukunft der Partei teilen. Und sich die Frage stellen, wie es gelingen kann, die notwendige Strategiedebatte zu fuhren. Ohne in eine Situation wie 2012 zu geraten, als Gregor Gysi auf dem Gottinger Parteitag zutreffend von "Hass in der Linken" sprach.

Ich habe mich entschieden, diesen Beitrag zur Strategiedebatte der LINKEN in zwei Varianten zu veroffentlichen. Einer gekurzten Fassung - diese liegt hier vor - und einer Langfassung, die auf www.benjamin-hoff.de abrufbar ist. Der Beitrag wurde zwischen den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg begonnen und nach der Thuringenwahl fertiggestellt.

Postwachstum - linke Erzählung statt verheddern im roten Faden

Statistische Erhebungen zeigen, dass das zwischenmenschliches Vertrauen in dem Maße abnimmt, je weiter die Einkommensschere in ihrem Land bzw. in ihrem Gemeinwesen geoffnet ist. Die Korrelation ist eindeutig und nicht zufallsbedingt. Naturgemaß ist das Vertrauensniveau im europaischen Vergleich in den skandinavischen Landern, also Staaten mit hoher sozialer Gleichheit, am hochsten, wahrend die niedrigsten Werte in den sudeuropaischen aber auch den osteuropaischen Staaten gemessen wurden. Das Vertrauensniveau in den USA differierte zwischen den Bundesstaaten spurbar. (Wilkinson/Pickett 2009: 494)

Steigt die Ungleichheit sorgen sich die Menschen weniger umeinander, gibt es weniger gleichberechtigte Beziehungen, weil jede und jeder sehen muss, wo sie und er bleibt und sinkt in der Folge auch das Vertrauen. Die Folgen fur das gesellschaftliche Klima, die Form politischer Aktivitaten, die Wirksamkeit von auf Solidaritat und Gleichheit beruhenden Narrativen liegen auf der Hand. Daruber hinaus gibt es nachweisbare Zusammenhange zwischen zwischenmenschlichem Vertrauen und Gesundheit, also dem physischen und psychischen Wohlergehen bis hin zur Lebenserwartung. (Wilkinson/Pickett 2015)

In Zeiten spurbaren Klimawandels bestatigen diese epidemiologischen Zusammenhange der Public Health-Forschung die wesentliche Grundannahme linker Politik: materielle Gleichheit ist und bleibt ein wesentlicher Schlussel fur das Funktionieren sozialer Gemeinwesen. Ohne Gleichheit nimmt die Bereitschaft zur Akzeptanz einer Gemeinschaft ab, die allen Mitgliedern Vorteile bringt, in der sich die Gemeinschaftsmitglieder als "ihresgleichen" anerkennen - unabhangig von Geschlecht, Herkunft oder Ausrichtung.

Spinnt man diesen Faden weiter, kristallisiert sich in der endlich ins offentliche Bewusstsein geruckten Notwendigkeit eines radikalen Umsteuerns angesichts der Klimakrise der Platz heraus, den die Linke dabei einnehmen muss. Strategien, die vorrangig auf Effizienzkonzepte setzen, dabei den technischen Fortschritt uberhohen und Zumutungen im Hinblick auf das westliche Konsumverhalten scheuen, um sich unangreifbar zu machen sind ebenso ungeeignet, wie Strategien des vorrangig individuellen Konsumverzichts, denen weder eine soziale Theorie noch ein soziales Modell zugrunde liegt, womit die okonomische Systemfrage unbeantwortet bleibt. Die Einbettung eines zukunftsfahigen Sozialmodells, das mitnimmt und uberzeugt, ist der notwendige linke Beitrag fur eine breite okologische Bewegung hin zur Postwachstumsgesellschaft, wobei es sich hier - aufgrund der Offenheit der dorthin einzuschlagenden Wege - nicht um die eine Gesellschaft handelt, sondern unterschiedliche Varianten denkbar sind.

Die Entkopplung von Wachstum und monetarem Wohlstand ist nicht weniger als ein radikaler Kulturwandel. Wohlstand als Zusammenspiel okonomischer, okologischer und sozialer Faktoren bedeutet in diesem Sinne denjenigen, denen grundlegende Prinzipien sozialer Wohlfahrt vorenthalten werden, ein Leben in menschenwurdigen materiellen Wohlstand zu ermoglichen. Fur die westliche Welt bzw. den globalen Norden hingegen geht es kulturell um die Uberwindung einer Gleichsetzung von Wohlstandsqualitat als materieller Quantitat. Um es deutlicher auszudrucken: Wenn es keine erkennbare weltweite Umverteilung gibt, werden sich Ungleichheiten ebenso verstarken wie dadurch hervorgerufene Probleme.

Wohlergehen in dieser Hinsicht ware - zuruckkehrend zu Vertrauen durch Gleichheit - die Arbeit an einem kulturellen Verstandnis, das Sinn und Lebensinhalt anders als in der Konsumgesellschaft nicht vorrangig mit materiellen Gutern und Prozessen verknupft. In der Sicherheit durch Gleichheit, Vertrau- en durch Gerechtigkeit, Sinnerfullung durch ein anderes Verhaltnis sowohl zur Lohnarbeit als auch zur Care-Arbeit3 herstellbar wird. Die Kontroverse um ein (bedingungsloses) Grundeinkommen unter diesem Gesichtspunkt zu fuhren, ware dann weniger als bisher eine Debatte um das realpolitisch Richtige oder Falsche, sondern ist ein Beitrag zu diesem notwendig neuen kulturellen Verstandnis. Einem Verstandnis von Wohlstand als der Moglichkeit, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, zu einer Gemeinschaft zu gehoren, ihr zu vertrauen, bei Bedarf an der Gestaltung der Gesellschaft teilzuhaben aber auch unabhangig davon, einen verlasslichen Platz in ihr zu haben.

Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass Versuche einer Gruppe, andere zum individuellen oder auch kollektiven Verzicht auf materiellen Reichtum in der Konsumgesellschaft aufzufordern, fur mich wenig uberzeugend sind. Einige wie Tim Jackson (2010: 102) kritisieren sie sogar als moralisch fragwurdig, insbesondere in einer Gesellschaft, in der die Bindekraft erzeugenden sozialmoralischen Grundlagen durch neoliberale Grundsatze unterminiert wurden. Demgegenuber bildet das von der Linken postulierte Primat des Offentlichen eine uberzeugendere Alternative. Aus der Kritik an neoliberaler Entstaatlichung erwachst die Rucknahme von Privatisierungen mit dem Ziel der Revitalisierung offentlicher Infrastrukturen. Ein weiter Begriff offentlicher Daseinsvorsorge tragt zu einem Verstandnis neuer gesellschaftlich wirksamer Steuerungsprinzipien bei - auch zur Bewaltigung der Klimakrise.

Die Machtfrage auf dem Weg zur Postwachstumsgesellschaft stellt sich unvermeidbar dann, wenn das Kapitalinteresse der bisherigen wachstumsbasierten Volkswirtschaft unmittelbar beruhrt wird. Wenn das Absinken der Kapitalproduktivitat spurbare und die Renditen geringer sowie langfristiger anfallen werden. Die Machtfrage wird dabei sowohl von oben als auch von unten gestellt werden.

Die Linke muss deshalb eine schlussige Antwort formulieren, wie kunftig die soziale Frage einer ausreichenden Losung zugefuhrt wird ohne exponentielles Wachstum auf Kosten der Umwelt einerseits bzw. den sozialen Kosten des globalen Sudens andererseits. Wenn man es also ernst meint, wird man den Beschaftigten und allen im globalen Norden, deren Wohlstand auf den Extraprofiten der Ausbeutung des globalen Sudens beruhen, deutlich machen mussen, dass dieser Weg an sein Ende kommt. Die einzig denkbare Antwort lautet: Umverteilung.

Auch hier wird deutlich, dass zentrale Begriffe unserer linken Programmatik im Lichte der Klimakrise einer neuen Blickrichtung bedurfen. Parallel zu einem Green New Deal4, der in seinem Inhalt und Um- fang umkampfter Gegenstand einer sozial-okologischen Umbaustrategie in einem Mitte-Links-Projekt sein wurde, muss die Linke das Ziel der Umverteilung verfolgen. Denn unabhangig von der prinzipiellen Richtigkeit der am Primat sozialer Gerechtigkeit und mehr Gleichheit ausgerichteten Forderung nach Umverteilung von Reichtum und Vermogen, geht es um eine neue strategische Aufgabe.

Mit der Abkehr vom exponentiellen Wirtschaftswachstum werden nicht nur Renditen geringer. Auch das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen wird schrumpfen. Die Umverteilung monetaren Einkommens dient dann dazu, die Schrumpfung moderat auszugestalten, sie ohne signifikante Wohlfahrtsverluste abzufedern. Umzuverteilen ist also nicht allein der Reichtum. Umzuverteilen ist auch der Einfluss auf und Zugang zu wichtigen Gutern und Dienstleistungen von privaten Oligopolen auf die offentliche Hand oder zu solidarischen Zusammenschlussen von Burgerinnen und Burgern. Ein garantiertes Grundeinkommen flankiert die Verkurzung von Arbeitszeiten in Verbindung mit ausreichenden Mindestlohnen.

Mit dieser Transformation geht ein Kulturwandel einher. Dieser Kulturwandel ebenso wie der Umfang wiederhergestellter offentlicher Einflussnahme auf Daseinsvorsorge und Schlusselbereiche der Wirtschaft, einschließlich der Treiber der Digitalisierung, entscheiden auch daruber, wie und mit welchem Ergebnis die Machtfrage ausgetragen wird.

Unter diesem Blickwinkel verfugt die Linke bereits uber geeignete programmatische Ansatze zur Mitgestaltung des Ubergangs zur Postwachstumsgesellschaft. Ich bezweifle jedoch, dass DIE LINKE sich dessen bewusst ist.

Links ist eine Frage der Haltung

Wahrend DIE LINKE programmatisch uber gute Grundlagen verfugt, besteht, so meine Hypothese, ein wesentliches Problem ihrer fehlenden gesellschaftlicher Akzeptanz in einem ein Haltungsproblem. Dieses Haltungsproblem erschwert es ihr, in den großen gesellschaftlichen Konfliktlinien und den dort auftretenden Polarisierungen mit einer authentischen Position resp. einem politischen Bearbeitungsmodus erkennbar zu sein. Das Adjektiv "authentisch" ist deshalb bewusst gewahlt. Es geht mir darum, Positionen zu formulieren bzw. wie dargestellt bestehende Positionen auf neue Herausforderungen anzupassen und sie auf dadurch uberzeugende Erzahlungen zu verdichten. Uberzeugend, weil sie am Alltagsverstandnis ansetzen und dennoch in der Lage sind uber das Bestehende hinauszuweisen.

Die Antwort, dass linke Themen gerade nicht en vogue seien, ist nicht uberzeugend. Vielmehr ware DIE LINKE in der Lage aufbauend auf ihrer Programmatik und ihrer Wertebasis denjenigen Luckenschluss im sozial-okologischen Umbau herzustellen, der historisch Aufgabe der gesellschaftlichen Linke war und ist. Dort, bei den Themen der sozialen Gerechtigkeit, verfugt DIE LINKE uber wenigstens so viel Vertrauen und Erfahrung, wie die Grune Partei hinsichtlich der Durchsetzung von Umweltschutz.

Die Voraussetzung fur ein programmatisches Arbeiten in diesem Sinne sind innerparteiliche Kontroversen, die mit Lust gefuhrt werden und aus denen im besten Fall eine neue Qualitat der Erkenntnis und damit der Programmatik folgt.

Ein Programm ware dann aber kein politisches Denkmal mehr, dessen Bestandsschutz mit Haltelinien vor jeder Art unzulassiger Veranderung gesichert wird. Beschlusse waren keine Formelkompromisse mehr, die als Stillhalteabkommen zur Gewahrleistung medienkonformer Parteitagsregie dienen.

Vergegenwartigen wir uns stattdessen: In Zeiten spurbarer gesellschaftlicher Transformation ist der Ausgang offen. Gefordert sind Verstandigungen uber die Richtung, in die gesteuert werden soll. Daruber wird es notwendigerweise Konflikte geben. Gefordert ist eine Konfliktkultur, die es als Gluck versteht die gesellschaftlichen Kontroversen in der eigenen Partei auszutragen. Eine solche Kultur gibt es innerhalb der Linken bisher nur in homoopathischen Dosen. Dies wurde bedeuten im geschutzten Raum innerparteilicher Solidaritat uber die politische Praxis, die Schritte und Wege sowie orientieren- den Richtungen und auch die ihnen zugrundeliegenden Grundsatze, Normen, Werte zu debattieren. Sich auf dieser Basis auf Vorhaben zu einigen, bei denen alle mitgehen konnen. Auf diese Weise wurde die Linke eine wahrnehmbare Reprasentantin der Widerspruche im Alltagsbewusstsein. Linke Politik als Politik in Widerspruchen, also Arbeit und Umgang mit den Widerspruchen im Alltag und des Alltags.

Die Komplexitat der gesellschaftlichen Herausforderungen fuhrt allen vor Augen, dass es absolute Wahrheiten - trotz bestehender Sehnsuchte nach einfachen Antworten - ebenso wenig gibt, wie widerspruchsfreies politisches Handeln. Die linke Politik als Politik in den Widerspruchen des Alltags ware authentisch im Sinne eines Anknupfens am Alltagsbewusstsein. Dem Alltagsbewusstsein zum Beispiel derjenigen, die durchaus versuchen im Hinblick auf die Klimakrise individuell bereits anders, bewusster zu konsumieren, Lohnarbeit und sinnstiftende Tatigkeit neu auszurichten. Und dennoch sich der Widerspruche im eigenen Handeln ebenso bewusst sind wie der Begrenzung ihres Handelns im Systemischen.

Das Gegenteil davon ist derjenige Bearbeitungsmodus, in dem die traditionelle Linke - zugespitzt formuliert - die Klimakrise als planetarische Menschheitsfrage beschreibt aber vor jede Veranderung der Produktions- und Lebensweise die Enteignung der Konzerne und die Reichensteuer setzt. Und beim wenig uberzeugenden Versuch der LINKEN, den Grunen mangelnde politische Konsequenz vorzuwerfen, verheddert sich dann gemeinhin auch der rote Faden ihrer Politik.

Wer sich anschickt, wie Carsten Brosda in einem Essay formuliert, "die Komplexitat unserer gesellschaftlichen Verhaltnisse in ein mehrheitsfahiges politisches Angebot zu verdichten, der braucht dazu die richtigen Themen, eine klar akzentuierte Werteperspektive und ein Spitzenpersonal, das Vertrauen aufbauen und abrufen kann." (2019: 43f.)

Das diesbezuglich ungenutzte Potenzial der LINKEN in ihrer derzeitigen Verfassung liegt auf der Hand.

Die Grunen haben insoweit nicht nur fur das dominierende Thema der Zeit, die Klimakrise, authentische Antworten, sondern sie sind auch in ihrer Wertehaltung, ihrer politischen Kultur die sie reprasentieren, der spurbare Gegenpart der AfD. Sie verdanken dieses zunehmende Alleinstellungsmerkmal insbesondere auch der Schwache der anderen Parteien. Denen wird aus unterschiedlichen Grunden nicht mehr zugetraut, in diesen Fragen eine konsequente Haltung und authentische Positionen zu ver- treten - DIE LINKE eingeschlossen.

Horst Kahrs (2019a) betont, dass die Linke immer dann stark war, wenn sie es verstand, verteilungspolitische Fragen mit den politischen Leidenschaften fur eine bessere, gerechtere Gesellschaft als greif- barer Vision zu verbinden. Diese »programmatische« Lucke teilen sich DIE LINKE und die SPD. Eine programmatische Erneuerung, neue Ideen bei den Antworten auf die großen Zukunftsfragen scheinen unausweichlich. Ich habe dies in diesem Text bereits im Hinblick auf den linken Beitrag zu einer Postwachstumsgesellschaft ausgefuhrt.

Vorwärts und nie vergessen: die Solidarität

Die Auseinandersetzung innerhalb der Linkspartei, ob sie sich vor allem als Anwalt der »Armen und Schwachen« in der Gesellschaft verstehen musse oder als entschiedene Verfechterin von »Menschheitsfragen« wie dem Klimawandel und seinen Folgen, lauft schief. Ebenso wie die Kontroverse uber die Migrationspolitik als Konflikt zwischen »Kommunitarismus« vs. »Kosmopolitismus«. Statt also wie Sahra Wagenknecht und andere eine empirisch nicht haltbare kulturalistische Kritik an einer vermeint- lich zu stark identitatsorientierten Linken zu formulieren und ihnen die Schuld fur die Abwanderung linker Wahlerinnen und Wähler zur AfD in die Schuhe zu schieben, muss der Hebel an einer ganz anderen Stelle angesetzt werden:

  • Erforderlich ist die offentlich vermittelte lustvolle Arbeit an einem verbindenden Narrativ, das auf der Werteplattform der Solidaritat aufbaut. Der erste Schritt dazu ist das Erfordernis, Vertrauen in Solidaritat wiederherzustellen. Wir sprechen hier uber nicht weniger als das Vertrau- en in ein erneuertes Sozialstaatsversprechen - unter den bereits skizzierten Rahmenbedingungen einer Postwachstumsgesellschaft.
  • Solidaritat als Ausdruck asymmetrischer Wechselseitigkeit, bei der die Beitrage nach der Leistungsfahigkeit des Einzelnen erhoben aber Unterstutzung nach dem jeweiligen Bedarf gewahrt wird, wurde im neoliberalen Diskurs und entsprechender politischer Praxis als irrationale Verhaltensweise denunziert. Nur durch Steigerung okonomischer Wettbewerbsfahigkeit auf kollektiver Ebene (Unternehmen, Hochschulen, Regionen, Staaten, intrastaatliche Zusammen- schlusse) und in Form von individueller Selbsteffektivierung zum Unternehmer der eigenen Ware Arbeitskraft, lasse sich, so lautete das unangefochtene Dogma, Ausgleich verwirklichen. Diejenigen, die unter diesen Maximen ihre Arbeit und soziale Sicherheit verloren haben, wer- den Verzichtsaufforderungen zugunsten der Sicherung des Planeten bzw. als Beitrag zu globaler Gerechtigkeit nur als alten Wein in neuen Schlauchen wahrnehmen. Das Sicherheitsversprechen durch Abschottung erscheint stattdessen plausibler und fur einen geringeren Preis, namlich die prinzipialistische Aufrechterhaltung des bestehenden Konsumverhaltens und Lebensstils zu haben. Hinzu kommt, dass dezidierte Gerechtigkeitskampagnen, die ihre Vorschlage vorrangig aus einem Gefuhl breiter gesellschaftlicher Ungerechtigkeit entwickeln, fur sich genommen als Mehrheitsstrategie kaum erfolgreich sein konnen, wenn die weit uberwiegende Mehrzahl der Bundesburgerinnen und Bundesbürger ihre personliche wirtschaftliche Situation als gut oder sehr gut einschatzt.

Der Wert der Solidaritat das starkste Pfund, auf dem die Linke ihre Erzahlung aufbauen muss. Denn Solidaritat baut auf der Erfahrung erlebter oder befurchteter Unsicherheit auf und garantiert Sicherheit durch Ausgleich und Umverteilung.

Die Klaviatur linker Politik vollständig bespielen

Die großen politischen Bewegungen unserer Zeit kreierten sich durchweg als Narrative. Und der dramatische Niedergang der sozialdemokratischen Bewegung, den wir im europaischen Maßstab - 100 Jahre nach der erfolgreichen Novemberrevolution des Jahres 1918 - zu konstatieren haben, ist auch dadurch zu erklaren, dass die Sozialdemokratie sich einerseits im keynesianischen Wohlfahrtsstaat der 2. Halfte des 20. Jahrhunderts zu Tode siegte und es andererseits versaumte, auf diese Siege mit einem neuen Narrativ zu reagieren. Die Sozialdemokratie hat uber den Pragmatismus von Helmut Schmidt und die New Labour-Phantasien von Tony Blair uber Gerhard Schroder bis zu Lionel Jospin sich sowohl inhaltlich wie normativ entleert. Dieses Versaumnis beruhte weder auf Schusseligkeit, weil man gerade Wichtigeres zu tun hatte, oder Dusseligkeit. Vielmehr war man der Auffassung, die Geschichte sei in gewisser Hinsicht an ihr Ende gekommen. Man sei am Ziel angekommen. Wohlfahrtsstaat, Liberalismus und Demokratie seien "the only game in town" und unanfechtbar. Francis Fukuyama machte im Lichte der friedlichen Revolutionen von 1989 die Formel vom Ende der Geschichte in seinem 1992 erschienenen Buch "The End of History and the Last Man" popular.

Wer Ideen bzw. Argumente und damit auch die unverzichtbare Benennung von Interessen, Verblendungen, Kapital und Macht als Streitgegenstande in die politische Arena zuruckholen mochte, darf sich gegen das Bedurfnis nach Meta-Erzahlungen nicht wehren.

In den Magazinen der sozialen Demokratie ist ausreichend Material vorhanden, um gesellschaftliche Integration wiederherzustellen. Dafur ist es freilich erforderlich, sowohl diejenigen Trittbrettfahrer abzuschutteln, die meinen, Narrative seien schone Blumen zur Verzierung des Agenda-Settings unpolitischer Politik als auch diejenigen, die das Fehlen einer integrativen großen Erzahlung durch Erneuerung verheißende charismatische Politikfiguren kompensieren wollen. Das ist ein Kurzschluss. Wer glaubt, die heterogenen bis widerspruchlichen Wunsche von Burgerinnen und Bürgern ließen sich quasi gleichsam auf der Folie einer Fuhrungsperson zu einem Narrativ verdichten, der irrt.

Die Schlussfolgerung ist nicht mehr und nicht weniger als ein Pladoyer fur die Artikulation politischer Leidenschaft basierend auf dem unbedingten Mut sowohl zu Komplexitat - einfach ist die Welt eben nicht zu haben und wenn alle in der Mitte stehen wollen, gibt es keine - als auch zu Widerspruchen.

Woruber in diesem Zusammenhang aber auch zu reden sein wird, sind die Methoden politischer Durchsetzung linker Politik. Der Konflikt uber die Akzeptanz und Wirkungsmachtigkeit ebenso wie die (il-)legitimen Kosten sozialreformerischen Pragmatismus im Vergleich zu revolutionarer Politik ist so alt wie die parteiformige Linke selbst. Er gehort zur notorisch offenen Frage kritischer Selbstreflexion aller Parteien, die sich aus Tradition der Arbeiterinnenbewegung entwickelten. Zugespitzt wird er in der LINKEN auf die Entscheidungsfrage ob Regieren ein zulassiges Instrument linker Politik oder der Todesstern linker Glaubwurdigkeit sei.

Ich bin der Uberzeugung, dass es weniger um die Fragen des Regierens geht, auch oder gerade weil der Bundesausschuss der Linkspartei in seinen Fragestellungen fur die Strategiedebatte der kritischen Betrachtung linken Regierens wieder einmal erheblichen Raum zu geben wunscht. In der Kritik am Regierungshandeln spiegelt sich eine Haltung wieder, die eigene Grundsatze, die eigene Erkennbarkeit uber die Herstellung politischer Kompromisse stellt. So kann Gestaltung komplexer Gesellschaften aber nicht funktionieren. Gerade in komplexen Verhaltnissen verstarkt sich der Wunsch, dass Parteien klar und einfach Stellung beziehen. Fur DIE LINKE wird das Beziehen eindeutiger Stellung noch erschwert durch das grundsatzliche Ziel, nicht Arzt am Krankenbett des Kapitalismus zu sein, sondern den Ubergang zur gesellschaftlichen Transformation zu gestalten.

Fur die Linke unverzichtbar ist aus meiner Sicht jedoch die Erkenntnis, dass die politische Klaviatur mehrheitsfahiger Politik nur dann erfolgreich gespielt werden kann, wenn auch diejenigen Tasten bedient werden, die auf den Ausgleich widerstreitender Positionen abzielen. Diesen unterschiedlichen Positionen liegen gemeinhin unterschiedliche gesellschaftliche Milieus zugrunde, die nicht gegeneinander ausgespielt, sondern miteinander verbunden werden mussen. Dies kann nur in der prozeduralen Vernunft unserer Demokratie geschehen, in der die Aushandlung politischer Kompromisse den Wesenskern bildet und keine Kapitulation vor der Realpolitik. Denn selbst wer sich mit der Attitude "Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren" vom Acker macht (Brosda 2019: 49), die die Linke ubrigens mit dem Liberalen Christian Lindner teilt, kommt um die Kompromissbildung nicht herum. Ob nun parlamentarisch, koalitionar oder in Sozialpartnerschaften.

Politik wie ich sie verstehe ist und bleibt ein politischer Prozess, der auf die Herstellung von Konsens orientiert und dabei in Kauf nimmt, dass auch große politische Ideen nur auf dem muhsamen Weg der Kompromisse und schrittweise umzusetzenden Handlungsvorschlage ihre transformatorische Wirkung entfalten konnen. Vielfach wird das transformatorische Ergebnis auch erst in der Ruckschau erkennbar sein. Ich betone dies deshalb, weil ein solches Verstandnis generell im Wunsch nach klaren Parteimarkenkernen, "klare Kante" etc. zu verloren gehen droht und weil ich es fur fatal hielte, die Strategiedebatte der Linken auf einen neuerlichen Aufguss der Frage "Regieren ja oder nein" zu verkurzen, in der seit langerer Zeit wenig neue Gedanken geaußert wurden, wie jungere Veroffentlichungen dazu zeigen (vgl. Gleis et al 2017).

Umbrüche

Aufgrund der Ergebnisse bei der Europawahl und den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen wurde nach dem 1. September 2019 begonnen, die Verfasstheit der Linkspartei ausschließlich im Krisenmodus beschrieben. Dabei wurde beispielsweise der Wahlerfolg in Bremen vernachlassigt. Andererseits wurde das Wahlergebnis in Thuringen fast wie die Rettung der gesamten Linkspartei begrußt. Beide Reaktionen sind falsch. In der Langfassung dieses Papiers gehe ich auf diese Aspekte intensiver im Abschnitt Umbruche ein.

Wie stets gibt es Licht und Schatten und selbst die Schatten konnen im Tagesverlauf großer oder klei- ner sein. Insofern sollen auch die positiven Entwicklungen in den Blick genommen werden. Die Linke in Bremen, in Berlin und in Thuringen sind hierfur Beispiele. In Bremen, weil DIE LINKE dort gezeigt hat, welche Wirkung die Herstellung einer spezifischen Vertrauensbeziehung, die ich unter Bezug auf Vester u.a. "Soziales Kapital" haben kann und die Berliner LINKE aufgrund des hartnackigen Kampfes um die enorm wichtige soziale Frage in urbanen Raumen: wie kann das Recht auf angemessenen Wohnraum (Art. 28 Abs. 1 VerfvBerlin) wirksam geschutzt werden. Auf beide Aspekte gehe ich in der Langfassung meines Beitrags ein.

Thüringen: Gut regiert. Nun Minderheitsregierung wagen

Die Thuringer Landtagswahl vom 27. Oktober hat das Undenkbare moglich gemacht. Erstmals seit 1990 ist DIE LINKE in einem Bundesland starkste Partei geworden. Sie hat nicht nur die AfD sondern auch die lange Zeit den Freistaat dominierende CDU auf die Platze verwiesen.

Widerlegt wurden damit diejenigen, die wie bei einem "Naturgesetz des Reformismus" davon ausgehen, dass Linke in Regierungsverantwortung stets nur verlieren, nie zulegen konnen. Selbst wenn Thuringen die Ausnahme bliebe - es ist moglich links zu regieren und eine Wahl zu gewinnen.

Die den ostdeutschen Landtagswahlen zugrunde liegende Polarisierung, unter der - wie beschrieben - in Sachsen und Brandenburg auch DIE LINKE zu leiden hatte, fuhrte in Thuringen dazu, dass die Rot- Rot-Grune Koalition ihre knappe Mehrheit verloren hat und nunmehr den Versuch unternimmt, als Minderheitsregierung weiter zu arbeiten.

Mehr noch als in den bisherigen funf Jahren werden DIE LINKE und Bodo Ramelow den Spagat wagen mussen, einerseits als Mehrheitssozialdemokratie betrachtet zu werden und gleichzeitig die Spielraume nach links zu erweitern. Aus der Position einer Minderheitsregierung wird dieser Spagat nicht einfacher - im Gegenteil.

Weil die vor uns liegende Aufgabe schwierig ist und die Gefahr besteht, dass die Mitte-Links-Regierung auf Kompromisse mit Christdemokratinnen und Christdemokraten oder Liberalen angewiesen sein wird, pladiert Aert van Riel im Neuen Deutschland fur den Weg in die Opposition. Mehr noch, er sieht im Wahlergebnis "keinen Regierungsauftrag". Man muss eine sehr normativ gefarbte Brille aufsetzen, um den Regierungsauftrag an Bodo Ramelow und DIE LINKE nicht erkennen zu konnen (vgl. Hoff 2019b). Van Riel bestreitet freilich in seinem Kommentar weniger einen vermeintlich fehlenden Regierungsauftrag, sondern außert die Befurchtung, dass DIE LINKE sich in der Minderheitsregierung "zu weit von ihrem Programm entfernen [konnte und deshalb] bald dieselben Glaubwurdigkeitsprobleme" wie die SPD bekommen wurde.

Ich bestreite meinerseits nicht, dass die Gefahr der programmatischen Abweichungen im Regierungsalltag besteht. Ebenso moglich sind Glaubwurdigkeitsprobleme gegenuber denjenigen Milieus, fur die DIE LINKE einzustehen hat. Eine zwangslaufige Kausalitat zwischen Glaubwurdigkeitsproblemen einerseits und programmatischen Abweichungen andererseits besteht hingegen nicht. Deshalb teile ich auch nicht die Haltung des regierungskritischen linken Problembaren, der stets ruft "wasch mir den Pelz aber mach mich nicht nass".

Es darf an dieser Stelle noch einmal aus Bernsteins Kapitel "Endziel und Bewegung" zitiert werden:

"Eine Theorie oder Grundsatzerklarung, die nicht weit genug ist, um auf jeder Stufe der Entwicklung Wahrnehmung naheliegender Interessen der Arbeiterklasse zu erlauben, wird immer durchbrochen werden, wie noch alle Abschworungen voll reformerischer Kleinarbeit und von Unterstutzung nahestehender burgerlicher Parteien immer wieder vergessen wurden. Und immer wieder werden die Parteikongresse die Klage zu horen bekommen, es sei hier oder dort im Wahlkampf das Endziel des Sozialismus nicht genug in den Vordergrund gestellt worden." (Bernstein 1899: 171)

Worauf es also nach der Bildung der rot-rot-grunen Minderheitsregierung ankommen wird, ist die Umsetzung einer Doppelstrategie. Zunachst naturlich in der Bewahrung und Aufrechterhaltung der in den vergangenen funf Jahren erreichten Fortschritte (Bildungsfreistellungsgesetz, Vergabegesetz, Klimaschutzgesetz u.a.m.) sowie beim Primat offentlicher Daseinsvorsorge, u.a. im Ruckkauf vormals privatisierten Wohnungsbestandes oder der Aktivierung stillgelegter Bahnstrecken sowie das Landesprogramm solidarisches Zusammenleben. Daruber hinaus die Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen in allen Landesteilen und die fortgesetzte Arbeit an der Uberwindung derjenigen Beschaftigungsverhaltnisse, die unter den Bedingungen von Niedriglohnen das Risiko von Altersarmut in sich bergen. Das mag sich nicht weltbewegend anhoren. Es sind dies jedoch Maßnahmen, die in hartnackigen Auseinandersetzungen durchgesetzt wurden und deren Bestand und Weiterentwicklung ebenso hartnackige Auseinandersetzungen gegen Widerstande erfordern wird.

Zeitenwende

Mehr als sieben Jahre sind seit dem Gottinger Parteitag vergangen. Dort bot DIE LINKE das Bild einer erschutterten Partei, in der laut Gregor Gysi der "Hass" regierte. Rund funf Jahre nach der Fusion von WASG und PDS zur Linkspartei standen sich damals in der Wahrnehmung vieler Beobachterinnen und Beobachter Ostpartei und Westpartei gegenuber. Dieses Bild stimmte bereits damals nicht, wie ich in der Langfassung des Beitrags zeige.

Diversifiziertes Reformerlager und Neuauflage vom Kampf der Alphatiere.

Seit meinem Parteieintritt vor 26 Jahren fuhle ich mich dem Reformerspektrum verbunden. Ein einheitliches Reformerlager gab es jedoch nie. Der Zusammenhalt entsprang vor allem einem gemeinsamen Verstandnis politischer Arbeit - mit großer Bandbreite. In der ersten Halfte der 1990er Jahre im Hinblick auf die klare Benennung der Verantwortung der SED fur fehlende Rechtsstaatlichkeit, die Inakzeptanz von Erklarungsversuchen fur das todliche Grenzregime oder die Unterdruckung von Meinungsfreiheit. Spater im Hinblick auf die Entscheidungen uber die Regierungsbeteiligungen. Im Bestreben um innerparteiliche Mehrheiten wurden wichtige Unterschiede zwischen den Reformerinnen und Reformern ubersehen oder negiert. Sie fruher erkannt, benannt und erortet zu haben, hatte viele Enttauschungen ersparen konnen.

Nach dem Gottinger Parteitag war vom vormaligen Reformerlager nichts mehr ubrig. Es diversifizierte sich endgultig aus. Jedoch nicht anhand von inhaltlichen Differenzen sondern an mit Personen geknupften Loyalitaten (Bartsch vs. Kipping bzw. weder noch). Nicht unahnlich dem Gewerkschaftsflugel (Lafontaine und Riexinger) sowie dem sogenannten linken Flugel (Wagenknecht).

Der Konflikt der alten Alphatiere (Lafontaine vs. Gysi) wurde nach Gottingen nicht uberwunden. Er transformierte sich in mehreren Stufen zu einem neuen personellen Konfliktmuster: Kipping/Riexinger vs. Bartsch/Wagenknecht, das seit mehr als zwei Jahren eine zunehmend lahmende Wirkung entfaltet. Aufgrund spurbarer gegenseitiger Ressentiments, politischer Entscheidungen aufgrund von Loyalitats- beziehungen, verletzten Eitelkeiten und absichtlich zugefugten bzw. kollateralen Beschadigungen.

Stabilisierte Partei mit gemischter Bilanz

Dabei haben die beiden Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger in den Jahren ihres Vorsitzes viel erreicht, das sich in den drei negativen Wahlergebnisses dieses Jahres nicht abbildete:

  • Die alten stromungspolitischen Linien gelten kaum noch. Die Kontroverse um die Haltung der Partei in der Migrations- und Integrationspolitik hat die alte Differenzierungsfrage "Wie haltst du es mit der Regierungspolitik?" in den Hintergrund gedrangt. Die Partei ist insgesamt eine andere geworden. Sie ist bewegungslinker und hat ein besseres Gefuhl entwickelt, Bewegungen und Parlaments- sowie mediale Politik zu verbinden.
  • Im Inneren der Partei und der Bundestagsfraktion werden Zeit und Energie vergeudet. Die Partei wirkt nach außen unbestimmt, unentschieden und nicht authentisch (vgl. oben zu den Haltungsfragen). Es gelingt ihr in wichtigen gesellschaftlichen Fragen nicht, eindeutige Position zu beziehen - zum Schaden im Parteienwettbewerb und bei Wahlen aber auch zum Leidwesen von Mitgliedern sowie Sympathisantinnen und Sympathisanten.
  • DIE LINKE ist insgesamt stabil. Sie gewinnt, wie Candeias zutreffend bemerkt, erstaunlich viele neue und vor allem junge Mitglieder. Diese verfugen uber eine breite berufliche Palette, insbesondere aus sozialen Diensten. Viele der neuen Mitglieder (vor allem in den großen bzw. Universitatsstadten) haben einen sogenannten Migrationshintergrund.
  • Auf der anderen Seite stehen Anzeichen von Stagnation und Ruckgang in der Flache. Die Gene- ration der heute 40-60 Jahrigen fehlt. Es gibt Jungere, die 2016-2018 eingetreten sind. Es gibt Konflikte zwischen Alt- und Neumitgliedern, der sich aufgrund der fehlenden moderierenden Altersmitte moglicherweise zuspitzen wird. Mit der Ablosung der Alten gehen Erfahrungen verloren. Und Verankerung. Die Jungen haben eine andere Vorstellung von Parteiarbeit. Es gibt Kipp-Situationen, in denen die Alten zu den Jungen sagen "macht mal" - die Jungen wiederum sagen "Infostand ist old-school - also euer Ding". Die Aufgabe besteht also darin, in einer Partei mit sich spurbar verandernder Mitgliedschaft, geringerer Verankerung in der Flache - wo- mit sich die Ostpartei nach unten nivellierend dem Westen annahert aber dadurch auch mehr gemeinsamer Erfahrungsraum geschaffen wird - eine gemeinsame identitatsstiftende politische Praxis herauszubilden. Eine Verwurzelung im sozialen Alltag wird, bei den Kommunalwahlen von der Kuste bis nach Oberbayern, eine entscheidende Bedeutung haben.
  • Die Partei hat Kampagnenmechanismen etabliert. Sie versucht uber mehr Prasenz im Alltag und mit Instrumenten wie Hausturgesprachen, "konkrete Organisierung in benachteiligten Vierteln in Mieterinitiativen, in Hartz-IV-Beratungen, durch systematische Unterstutzung von Arbeitskampfen der Beschaftigten bei Amazon oder an Krankenhausern, in Willkommensinitiativen, alltaglich gemeinsam mit sozialen Bewegungen und Initiativen (nicht nur bei großen Demonstrationen), sich breiter zu verankern, beim Aufbau solidarischer Strukturen im Alltag, als Ort wechselseitiger Hilfe und politischer Organisierung, um starker zu werden." (Candeias 2018)
  • Bernd Riexinger hat dafur den Begriff der »Verbindende[n] Klassenpolitik« gepragt, der als politische Strategie aus meiner Sicht starker reflektiert und weiter entwickelt werden sollte. Auch deshalb weiter entwickelt werden muss, weil im Konzept der verbindenden Klassenpolitik der- zeit keine Antwort auf die Fragen der Organisationspolitik der LINKEN gegeben wird. Diese Herausforderungen der Partei werden dort eher in "Kampfen" und "Bewegungen" aufgelost, aber die glaubwurdige Ruckkopplung mit der Praxis sozialer Milieus in Feuerwehrvereinen, Sportvereinen etc. vernachlassigt. Damit werden aber unverzichtbare Orte des Alltagsbewusst- seins, der pragenden Lebenswelten ausgeblendet.

Kursbestimmung

Bis zum 27. Oktober 2019 haben sich alle relevanten handelnden Personen innerhalb der Linkspartei einen Burgfrieden verordnet. Die ersten Reaktionen nach den Wahlen vom 1. September 2019 zeigten, dass die Debatte uber die Wahlergebnisse des Jahres 2019 nicht als offener Austausch mit dem Ziel der besten Schlussfolgerungen gefuhrt wird, sondern als Wiederholung des bereits hinlanglich bekannten Konflikts einerseits zwischen der Fraktionsfuhrung im Bundestag und den Parteivorsitzen- den und andererseits zwischen den fragilen Loyalitatsbindungen bzw. Mehrheiten (sogenanntes Hufeisen) in der Bundestagsfraktion andererseits. Der neuerliche Aufguss dieser Konstellation verspricht vergleichsweise großes Medienecho sowie nachhaltige allseitige Verletzungen bei extrem geringer zukunftsweisender Wirkung.

Dass nach einem kurzen Aufflackern dieses Konfliktmusters in den sozialen Netzwerken und von dort in die Printmedien alle beteiligten Akteure - mit Blick auf die Thuringenwahl - sich zuruckgehalten haben, eroffnete ein kurzes »window of opportunity«, den politisch-inhaltlichen und methodischen Rahmen dieser unverzichtbaren und uberfalligen Debatte zu klaren. Ob es gut genutzt wurde, wird sich zeigen.

Fur die von mir angestrebte Kursbestimmung der Partei DIE LINKE gibt es nicht den einen Losungsweg und die Stichworte, die ich liefere sind Anregungen fur eine Debatte, bei der es mir wichtig ist, dass sie uberhaupt gefuhrt wird.

Da ich jedoch der Uberzeugung bin, dass Personen und Inhalte zusammenfallen mussen, warne ich davor, Personalentscheidungen im Hinterzimmer auszuhandeln und dann der Partei zu prasentieren. Die ausgewahlten Personen werden dann entweder von den Resten bestehender Stromungen getragen bzw. abgelehnt oder die ausgewahlten Personen versuchen durch die ostentative Ablehnung aller bestehenden Stromungen zu punkten suchen. Entscheidungen anderer Parteien sind keine Blaupause, die man einfach ubernehmen kann. Keine Mode passt allen. Dass SPD, Grune und CDU ihre Vorsitzen- den in einem Urwahlprozess ermittelt haben fuhrte in allen drei Fallen dazu, dass Talente miteinander in einem Wettbewerb standen, dass unterschiedliche Konzepte inhaltlich diskutiert und bewertet werden konnten. Das ist etwas, was ich als Gewinn sehe und mir fur DIE LINKE wunschen wurde. Das muss keine Urwahl sein. Mir geht es vielmehr darum, dass wir uber phantastische kompetente und kluge Kopfe jeden Geschlechts in der LINKEN verfugen, denen ich mit diesem Papier die alte Demo- Aufforderung zurufen mochte: "Kommt in die erste Reihe".

Der Parteivorstand der LINKEN ware also gut beraten, nicht nur die Strategiedebatte mit einer Strategiekonferenz vorzubereiten, sondern auch einen Prozess vorzuschlagen, der es der LINKEN ermoglicht, nicht nur die besten Kandidatinnen und Kandidaten in einem offenen Prozess zu identifizieren, sondern auch die Mitglieder durch Einbeziehung, durch faire politische Debatte stolz zu machen und bei den interessierten Burgerinnen und Burgern durch kluge und wahrnehmbare Debatte Profil zuruck zu gewinnen.

Im Ubrigen unterbreite ich fur die Strategiedebatte folgende Vorschlage:

  1. Dem Bedurfnis und Interesse nach zeitgemaßen Antworten der LINKEN werden wir nicht gerecht, wenn die Partei im Status Quo des Stellungskrieges zwischen Partei- und Fraktionsspitze verharrt oder sich mit Formelkompromissen uber Parteitage mogelt. Notig ist vielmehr die Inventur unserer politischen Programmatik. Nicht mit dem Ziel, vermeintlichen Ballast uber Bord zu werfen. Vielmehr im Sinne der Defragmentierung unserer programmatischen Festplatte. Ebenso wie auf dem Computer ist es sinnvoll, in regelmaßigen Abstanden durch die Zeitlaufte fragmentierte Positionen auf dem programmatischen Speichermedium neu zu ordnen, so dass logisch zusammengehorige Positionsblocke fur die Herausforderungen der Zeit gebildet werden.
  2. Diese Inventur, ehrlich und ohne Scheuklappen durchgefuhrt, bietet Gelegenheit fur die Entwicklung klarer und zeitgemaßer Positionen, selbst wenn damit bisherige Konventionen kritisch hinter- fragt werden. Ein Beispiel: Wir alle wissen, dass seitens der Linkspartei außer grundsatzlichen Formeln hinsichtlich neuerer hybrider Bedrohungen oder der NATO keine hinreichend klare Analyse innerhalb der LINKEN besteht, sondern Beschlussformeln vorgetragen werden. Es fehlen Ableitungen fur eine zeitgemaße Politik internationaler Zusammenarbeit und Sicherheit. Schlussfolgerungem, die sowohl geeignet sind, das politische und parlamentarische Handeln unserer Abgeordneten im Bundestag oder Europaparlament zu begleiten bzw. zu erlautern als auch dazu angetan, eine Zusammenarbeit mit SPD und Grunen zu Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik fur den Fall einer potenziellen Koalition im Bund zu ermoglichen statt zu ihrem Sargnagel zu werden.
  3. Damit ist das Thema Zusammenarbeit mit SPD und Grunen angesprochen. Ich weise seit Jahren auf den pathologischen Umgang zwischen den drei Parteien hin. Seit dem Verlust der rot-grunen Mehrheit 2005 haben es die drei Mitte-Links-Parteien aber auch und vor allem DIE LINKE nicht vermocht, eine gemeinsame politische Idee fur die solidarische und zukunftsfahige Gestaltung unseres Landes zu formulieren. Eine uberzeugende Antwort darauf, dass trotz langanhaltenden Wirtschaftsaufschwungs immer mehr Menschen die Befurchtung haben, vom Wohlstand ausgeschlossen zu sein und immer mehr junge Menschen uberzeugt sind, dass es ihnen kunftig weniger gut gehen wird als ihrer Eltern- und Großelterngeneration. In der landliche Raume nicht abgehangt werden, sondern vielmehr durch Digitalisierung und offentliche Daseinsvorsorge statt staatlichem Ruckzug aus der Flache Ermoglichungsraume sind.
  4. DIE LINKE muss aus meiner Sicht auch in unangenehmen gesellschaftlichen Diskursen auf einen umfassenden Begriff von Sicherheit, der nicht allein soziale Sicherheit meint, verstandigen. Gera- de in einer von vielfaltigen Krisenentwicklungen durchgeschuttelten Welt, die fur viele den Bezug auf die Heimat als Arrangement verlasslicher sozialer und kultureller Bezuge immer wichtiger machen, geht es aus linker Sicht darum Sicherheit sowohl sozial als auch liberal und weltoffen zu buchstabieren.
  5. Wir mussen eine Erzahlung entwickeln, wie Deutschland und Europa nach unserer Vorstellung in zehn Jahren aussehen sollen. Nicht als Gemalde programmatisch-normativer Idealvorstellungen, die auf Parteitagen mehrheitsfahig sind, sondern als authentische und realistische Erzahlung. Uber einen sozialen, okonomischen und kulturellen Reformprozess, fur dessen Realisierung wir als Teil eines progressiven Lagers kampfen. Jenes progressiven Lagers, das sich als Gegenpol heraus- bilden muss zu dem bereits sichtbaren Lager Mitte-Rechts, das von der CDU/CSU bis zum "identitaren" Rand der AfD reicht. Die richtige Bearbeitung des politischen Rechtstrends beinhaltet auch, sich als Teil der intellektuellen Kristallisationspunkte, der kulturellen Anker zu begreifen und auf diese anziehend und nicht abschreckend zu wirken. Was eine Anderung unserer politischen Kultur, unseres Kulturbegriffes voraussetzt, um Teil der mobilisierenden Akteure im Bemuhen um die Bildung eines neuen historischen Blocks zu sein.
  6. Wir haben als Partei DIE LINKE zwar netzpolitische Positionen aber keinen Begriff von Digitalisierung und den damit verbundenen gesellschaftlichen Veranderungen. Ich schließe mich in diese kritische Betrachtung ausdrucklich selbst ein und negiere nicht das unverzichtbare Engagement Einzelner auf diesem Feld, das fur DIE LINKE hohe Bedeutung hat. Aber DIE LINKE selbst hat die Digitalisierung bislang nicht verstanden und muss das gleiche Programm wie oben einleitend beim Postwachstum beschrieben, praktizieren. Ein Beispiel zum erforderlichen Zugang: Nach Auffassung der schwedischen Journalistin Karin Pettersson gehen "Progressive und Gewerkschaften [...] eines der grundlegendsten Probleme unserer Zeit nicht an - die Anhaufung von Daten im heutigen Wirtschaftsmodell und die entsprechende Veranderung der Machtverhaltnisse zwischen Kapital und Arbeit." (Pettersson 2019) Sie pladiert deshalb dafur, die Frage des Datenbesitzes zum wesentlichen Gegenstand zu machen. Dabei konnen Daten sowohl als geronnenes Ergebnis von Arbeit betrachtet werden, dann sollte "der damit geschaffene Wert zumindest teilweise zu seiner Quelle zuruckgefuhrt werden" (Pettersson 2019a), oder man versteht Daten als Teil offentlicher Infrastruktur und damit als kollektives Gut. Dann machen Konzepte Sinn wie das des "Datengemeingutes", an dem Barcelona arbeitet: "Our goal is to create "data commons” from data produced by people, sensors and devices. A data commons is a shared resource that enables citizens to contribute, access and use the data - for instance about air quality, mobility or health - as a common good, without intellectual property rights restrictions.” (Bria 2018). Das Prinzip des Open Data wird also fortentwickelt, in dem die unterschiedlich generierten Daten als gemeinsame Ressource verstanden und kollektiv gemeinwohlorientiert genutzt werden konnen.
  7. Digitalisierung hat aber auch Wirkung auf uns als Partei DIE LINKE. Rana Deep Islam und Sven Liebert pladierten vor einigen Wochen im IPG-Journal dafur, innovative Methoden wie Hackathons, Innovationshubs u.a. Instrumente agiler Unternehmensorganisation auf Parteiorganisationen anzuwenden. Die beiden Autoren formulieren: "Die Leitfrage muss dabei sein, wie es progressive Parteien schaffen, solche Innovationen besser als bislang nutzbar zu machen, die außerhalb der eigenen Parteimauern stattfinden. Das Spektrum moglicher Fragestellungen muss breit gedacht werden, von neuen digitalen Partizipationsformaten, uber strukturelle Fragen, die mutig die Organisationsformen einer Partei neu denken bis hin zur Herausforderung, wie der zahe und intransparente Prozess der Programmentwicklung entschlackt werden kann." Es ist davon auszugehen, dass die Organisationskultur einer Partei wie DIE LINKE aber auch von SPD und Grunen diese Leitfragen - aus gutem Grunde - zunachst kritisch betrachtet. Dennoch durfte es fur DIE LINKE kein gutes Zeugnis sein, dass die CSU seit ihrem jungsten Bundesparteitag digital besser aufgestellt ist, auch wenn eine Reihe der Beschlusse zur digitalen Organisationsreform reichlich bieder wirken.

Eine Langfassung des Textes ist hier verfügbar.

Autorenangabe

Benjamin-Immanuel Hoff ist Sozialwissenschaftler. Seit 2014 ist er Kulturminister und Chef der Thuringer Staatskanzlei.

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