Frieden mit Russland
In den Debatten auf dem letzten Parteitag der sächsischen Linken, der das desaströse Wahlergebnis der LINKEN bei den Landtagswahlen im September auszuwerten hatte, war Russland vielleicht nicht die wichtigste, aber die am kontroversesten diskutierte inhaltliche Thematik. Das kommt nicht von ungefähr. Denn an dieser Frage werden einige politische Konfliktlinien paradigmatisch offenbar. Die Frage des Verhältnisses der LINKEN zu Russland als Staat und als Gesellschaft wird eine zentrale strategische Frage für DIE LINKE bleiben, auch wenn die persönlichen Bindungen eines Teils unserer Partei, die noch von vor 1990 resultieren, weiter an Bedeutung verlieren. Hier soll gezeigt werden, dass der Versuch, Russland als 'ein kapitalistisches Land unter vielen' zu kategorisieren, und eine weitergehende politische Verantwortung der deutschen Linken gegenüber diesem Land abzulehnen, der politischen Verantwortung der LINKEN vor allem in zwei zentralen programmatischen Punkten nicht gerecht wird: in ihrer Friedenspolitik und in ihrem anti-faschistischen Vermächtnis. Diese beiden Politikfelder müssen in der Russland-Politik unserer Partei die Priorität haben.
- Friedenspolitik: Wer eskaliert?
Die Notwendigkeit, das linke Friedensgebot speziell für Russland zu betonen, ergibt sich aus der geopolitischen Entwicklung seit 1990: Die ausgestreckte Hand Moskaus nach dem Ende der Systemkonkurrenz wurde von den USA, und schließlich von immer mehr westlichen Staaten als Geste des Verlierers missinterpretiert und verschmäht: Entgegen heiliger Schwüre beim Abschluss des 2+4 Vertrages wurde der Aufbau eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit im ursprünglichen Sinne der KSZE nie versucht. Russland wurde stattdessen beim Aufbau des neuen Europa am Katzentisch platziert. Die NATO-Erweiterungen gingen mit der Einbindung von Ländern in die EU einher, die mit Russland viele wirtschaftliche und kulturelle Verbindungen teilten, die nun gekappt wurden durch einen Binnenmarkt, der Russland weitgehend ausschloss. Die In-Kraftsetzung des schon ausgehandelten A-KSE-Vertrags, der eine Rüstungsbegrenzung für konventionelle Waffensysteme in allen Gebieten Osteuropas einführen sollte, wurde von den NATO-Staaten unter fadenscheinigen Begründungen verhindert. Durch die Pläne für einen ballistischen Raketenschirm der NATO in Osteuropa wurde dann endgültig offenbar, dass die Integration der osteuropäischen Länder in NATO und EU Russland isolieren sollte. Sie gefährdete die Wirtschafts- und zunehmend auch die elementaren Sicherheitsinteressen Russlands. Das Land reagierte darauf mit einer zweifelhaften Doktrin, die die ethnische Russen im 'nahen Ausland' unter den Schutz der Russischen Föderation stellte und sezessionistische Tendenzen in ehemaligen Sowjetrepubliken beförderte. Die westliche Politik war angesichts dessen unfähig zur kritischen Selbstreflexion: Der Druck auf Russland wurde nur weiter erhöht, nunmehr mit der angekündigten Assoziierung der Ukraine und weiterer Staaten an die EU. Wieder wurde der Prozess explizit nicht als Brückenschlag zwischen der EU und Russland, sondern als Gegensatz angelegt – auch hier sollten gewachsene Wirtschaftsbeziehungen zum östlichen Nachbarn bewusst gebrochen werden.
Vor diesem Hintergrund erscheinen die völkerrechtswidrige Sezession und die folgende Eingliederung der Krim an Russland nicht als Agieren im Hinblick auf die Ukrainekrise, sondern als Re-Aktion auf ein jahrzehntelanges Agieren des Westens, der fortgesetzt und absichtsvoll die wirtschaftlichen und Sicherheitsinteressen Russlands missachtete. Auch hatte der Westen bereits zuvor mit der Intervention im Kosovo und der Kriegführung im Irak eine Periode der fundamentalen Missachtung des Völkerrechts eingeleitet.
Die Bundesregierungen verschiedener Couleur tragen für diese Entwicklung Mitverantwortung: Es fehlte nicht an russischen Gesten und Mahnungen, angefangen beim Auftritt des neuen Präsidenten Putin 2001 vor dem Bundestag. Trotz der deutschen Vermittlung im Normandie-Format und der Steinmeier-Initiative für die Neu-Begründung konventioneller Rüstungsbegrenzung in Europa: Den Planungen der NATO Readiness Initiative bis 2031, die unter anderem eine Steigerung der Militärausgaben auf 2 Prozent des BIP beinhalten und eine weitere Aufrüstung der Bundeswehr um bis zu sechs weitere gepanzerte Brigaden vorsehen, folgt die Bundesregierung nach wie vor uneingeschränkt. Sie unterstützt also weiter die Strategie der militärischen Eskalation. Es ist und bleibt die Pflicht der LINKEN, darauf hinzuweisen, dass die westlichen Staaten seit Jahren gegen Russland eskalierend agieren, während die russische Seite primär reagiert. In einer abstrakten Kapitalismuskritik mag diese Unterscheidung müßig sein, in der konkreten Frage der friedens-politischen Positionierung und Aktion zur Verhinderung eines bewaffneten Konflikts ist sie von entscheidender Bedeutung. Eine Position der Äquidistanz ist hier für DIE LINKE nicht möglich.
- Geschichtspolitik und Antifaschismus: Wer trägt Verantwortung?
Genauso wichtig ist die Problematik Russland für die geschichtspolitische Aufgabe, die für uns LINKE aus dem antifaschistischen Grundkonsens unserer Partei erwächst. Die schmallippigen Antworten der Bundesregierung auf Anfragen der Bundestagsfraktion zum Tag der Befreiung, zum Jahrestag des Endes der Blockade von Leningrad oder dem Jahrestag des Überfalls am 22. 6. 1941 zeigen, wie absichtsvoll ignorant die Bundesregierung diese neuralgischen Daten der deutsch-russischen Geschichte behandelt. Siebenundzwanzig Millionen Tote, Zehntausende Ermordete und niedergebrannte Dörfer und Städte, die gezielte Aushungerung von über einer Million Menschen in Leningrad und die millionenfache Tötung der sowjetischen Kriegsgefangenen zeugen von der Barbarei des faschistischen Kriegs von 1941 bis 1944. Dies und der Umstand, dass die Sowjetunion und ihre Armee der entscheidende Akteur beim Sieg über Hitlerdeutschland waren, sind geschichtliche Fakten. Die Gültigkeit dieser Fakten steht heute aber unter dem Dauerbeschuss einer zunehmenden Geschichtsrelativierung oder Geschichtsklitterung. In der medialen Darstellung des 2. Weltkriegs wird die kriegsentscheidende Leistung der Roten Armee immer mehr zugunsten des Fokus auf die West-Alliierten ignoriert, wenn nicht gar negiert. Deutsche Historiker überbieten sich in zynischen Hitler-Stalin-Vergleichen, die deutsche Untaten relativieren. Die Sicht der AfD, der deutsche Faschismus sei nichts weiter als ein 'Fliegenschiss' in der Geschichte, steht genauso für diese Tendenz, wie der jüngste Beschluss des Europaparlaments, der Nationalsozialismus und Kommunismus in einem Atemzug nennt und den Holocaust an den europäischen Juden mit der Ausbreitung des sowjetischen Machtbereichs nach 1945 gleichsetzt. Dieser Geschichtsdiskurs speist sich auch aus der antikommunistischen Tradition der Geschichtsschreibung des Kalten Krieges, die die systematischen deutschen Verbrechen an der Zivilbevölkerung und den rassistischen Charakter des 'Ost-Feldzugs' leugnete,[1] um damals das Feindbild vom 'bösen Iwan' nutzbar zu halten. Dagegen arbeitete die tiefgründige Recherche von linken Historikern sowohl der DDR (Pätzold, Eichholtz, Hoffmann) als auch der Alt-Bundesrepublik (Streit, Wette, Heer) die Dokumente über die Verbrechen der deutschen Kriegsmaschinerie im Osten auf. Sie legten den Grundstein für die Ausstellung 'Verbrechen der Wehrmacht', die in den 1990er Jahren die wahre Charakteristik dieses Krieges gegen die Sowjetunion und ihre Bevölkerung erstmals auch in der Bundesrepublik öffentlichkeitswirksam aufbereitete.
Gerade angesichts der neuerlichen Versuche der Geschichtsklitterung von rechts muss DIE LINKE geschichtspolitisch klar Position halten: Die deutsche LINKE ist, neben Israel, auch den anderen Ländern gegenüber in einer besonderen Verantwortung, deren Bevölkerungen Opfer des faschistischen Rassismus wurden. Darunter sind zu allererst die Länder der ehemaligen Sowjetunion zu zählen, die - mit den Russen als größter Ethnie - die größte Opferlast zu tragen hatten. Diese historische Verantwortung ist unverhandelbar. Deshalb steht unsere Partei auch in der Pflicht, sich Tendenzen des tradierten anti-slawischen Rassismus, anti-östlichem Ressentiment und westlichem Überlegenheits-Kulturalismus entgegen zu stellen, die seit 2014 wieder verstärkt im deutschen öffentlichen Diskurs (und vereinzelt auch bei jungen LINKEN) zu beobachten sind.
- Außen- und Innenpolitik
Diese Gesichtspunkte zur Grundlage zu nehmen hat zunächst nichts damit zu tun, wie bzw. ob man sich in der LINKEN zu konkreten Fragen der russischen Politik positioniert und ggf. Kritik formuliert. Denn eine solche friedens- und geschichtspolitisch fundierte Position kann nicht in Abhängigkeit davon aufrechterhalten oder fallen gelassen werden, ob man die Repräsentanten, die Regierungsform, oder politische Einzelentscheidungen des jeweiligen Landes favorisiert oder nicht.
Hier ist die Einhaltung der politischen Prioritäten in der Abwägung wichtig. Linke Russland-Politik muss unsere Prioritäten in den Mittelpunkt stellen und nicht z.B. innenpolitische Fragen Russlands, die die russische Linke in ihrem Kampf in der eigenen Gesellschaft lösen muss und wird. Dies gilt genauso für die Positionierungen in der Außenpolitik: Wer z.B. das Agieren des russischen Militärs in Syrien als Ausdruck der Verfolgung von geostrategischen Interessen kritisiert, muss ebenso die geopolitisch begründete Kriegs- und Regime-Change-Politik des Westens kritisieren. Und er muss gleichzeitig klarmachen, dass er/sie – im europäischen Kontext – die legitimen Sicherheitsinteressen Russlands und seiner Bevölkerung in Auseinandersetzung mit der NATO verteidigt. Tut er/sie das nicht, lässt er/sie sich in die NATO-Eskalationslogik mit ihrem geschlossenen antirussischen Feindbild einverleiben. Hier wie dort gilt: die Priorität in der Russland-Politik der LINKEN muss - aus historischer Verantwortung - der Friedensbewahrung und einer neuen Entspannungspolitik gelten, die eine gedeihliche gute Nachbarschaft mit Russland in Europa zum Ziel hat. Diese Priorität muss von unserer Partei und ihrer Führung auch eindeutig so kommuniziert werden.
[1] Die Planungen des ‚Generalplan Ost‘ der faschistischen Führung unter Himmler sahen die Zwangs-deportation oder Liquidierung von 31 Millionen Menschen auf dem Gebiet der westlichen Sowjetunion vor.