Linker Feminismus ist kein Nischenprojekt – er muss Kern unseres Selbstverständnisses sein
Wir erleben seit Mitte der 1970er Jahre eine zunehmende Ökonomisierung der Gesellschaft und des gesamten öffentlichen Lebens. Der seither in alle Lebensbereiche vordringende Neoliberalismus wurde seit der Finanzkrise 2007ff weiter verschärft. Die austeritätspolitischen Maßnahmen, die seither in Deutschland und der EU, aber auch weltweit als alternativlose Wirtschaftspolitik gelten, führen zu Sparmaßnahmen und Profitdruck auch in Bereichen der Gesellschaft, die zur Sicherstellung grundlegender Bedürfnisse und sozialer Rechte elementar notwendig sind und damit letztlich auch das Fundament für demokratische Teilhabe an der Gesellschaft bilden. Ein markantes Beispiel ist der Gesundheitsbereich seit der Umstellung auf das System der Kostenfallpauschalen unter der damaligen rotgrünen Bundesregierung. Zugleich aber regt sich auch immer mehr Widerstand: Immer häufiger wehren sich die Beschäftigten in Erziehungseinrichtungen und in Krankenhäusern mit Streiks, und selbst an Schulen organisieren sich die immer prekärer beschäftigten Lehrkräfte - ein Szenario, das im ausfinanzierten und von mit Streikverbot belegten Beamten getragenen Schulsystem der alten Bundesrepublik undenkbar gewesen wäre und gleichzeitig weit über ein "zurück zum Sozialstaat der 60er Jahre" hinausweisen kann.
Aber nicht nur Beschäftigte (und damit deren Schülerinnen, Patientinnen, etc.) leiden unter den Kürzungen. Wir alle spüren Einschnitte, wenn öffentliche Infrastruktur in Form von Schwimmbädern, Jugendzentren, Stadthallen, Parks und der Personennahverkehr entweder privatisiert werden, wodurch sie ihren grundsätzlich demokratischen Charakter einer Einrichtung von und für alle verlieren, und/oder verwahrlosen. Entweder noch in der öffentlichen Hand, der durch die Schuldenbremse die Hände gebunden wird, oder durch Privatinvestoren, deren Kalkulation eine Instandhaltung nicht vorsieht. Oliver Nachtwey, Soziologe der Universität Basel, brachte diese Erfahrung kürzlich in einem Vortrag für die Linksfraktion im Bundestag auf die treffende Formel: »Klasse ist nicht nur eine Frage des Einkommens, sondern eine der Lebenswelt.« Wer kann sich leisten, in das exklusive Fitnessstudio in der nächstgrößeren Stadt zu fahren, wenn der örtliche Sportverein die Hallenmiete nicht mehr zahlen kann? Wer hat Zugang zu privat bezahlten Tagesmüttern, wenn die städtische Kita das Kind nicht mehr aufnehmen kann, weil Personal fehlt?
Im Zuge der Antiausteritätsproteste in Chile verbreiteten Street-Art-Künstlerinnen einen Satz an den Wänden der Bankgebäude des Landes: »Sie schulden uns ein Leben.« Er ist wunderbar, denn er kehrt um, was uns im letzten Jahrzehnt erzählt worden ist. Nicht wir schulden den Banken und Großinvestoren dieser Welt unsere Lebensqualität. Sie schulden uns unsere Infrastruktur, unsere selbstbestimmten Lebenswelten und nicht zuletzt: Unsere Demokratie. Denn die wachsende Einflussnahme von Großinvestoren und Banken auf politisches Geschehen in Form von Lobbyismus, aber auch von Klagen gegen Staaten vor Schiedsgerichten ist gefährlich.
Die beschriebenen Zustände und Entwicklungen sind ein Nährboden für demokratiefeindliche Bewegungen. Viel wurde in den letzten Monaten gestritten, was die Ursachen des Rechtsrucks in der Bevölkerung sind. Gestritten wurde, ob es eher an ideologischen oder an ökonomischen Faktoren hänge. Dieser Gegensatz ist jedoch falsch, und aus marxistischer Perspektive auch leicht aufzulösen: Der Satz "Das Sein bestimmt das Bewusstsein" meint nicht und meinte nie, dass allein materielle Faktoren eine Rolle spielen. Der Satz meint, dass materielle Grundlagen und Ideologie nicht trennbar sind. Nachtweys Begriff der Lebenswelt als Klassenerfahrung zeigt das deutlich: Die Lebenswelt wird geformt von ökonomischen Rahmenbedingungen. Einkommen, Miete, Infrastruktur. Aber sie wird erfahren als individuelle Umgebung, die unterstützend oder abstoßend, friedlich oder bedrohlich sein kann.
Es ist nicht erstaunlich, dass eine von der neoliberalen Mitte ausgehende Ideologie der Konkurrenz und Entsolidarisierung, die Einzug in sämtliche Bereiche des Lebens gehalten hat, sich gerade auch für Kinder und Jugendliche in Erziehung und Ausbildung niederschlägt, fruchtbarer Boden für jene war, die seit jeher in geschlossen rechten Weltbildern leben. Der autoritäre Geist der Alternativlosigkeit dieser ökonomischen Konkurrenz und der marktkonformen Demokratie wird von AfD und Co nur übersetzt in den hässlichen Autoritarismus der Einzelnen gegenüber ihren Mitmenschen. Aus dem Marktextremismus des "Jeder ist sich selbst derdie Nächste" folgt Hoffnungslosigkeit und die Ablehnung jeglicher Förderung von Minderheiten, Frauen und anderen schutzbedürftigen Gruppen: Der brutale Markt soll für alle gleichermaßen gelten.
Die Sparzwänge des Staates sagen der Sorgearbeit: "Du kannst effizienter pflegen, effizienter heilen, effizienter trösten." Kurz: "Stellt euch nicht so an!" Da Sorge- und Reproduktionsarbeit Frauen zugeschrieben wird, und auch weiterhin weit überwiegend von Frauen ausgeführt wird, treffen diese harten Sparmaßnahmen in erster Linie Frauen. Ihre Arbeit wird zunehmend geringgeschätzt.
Und wo sich öffentliche Infrastruktur zurückzieht, wo die Menschen individuell leisten müssen, was vorher Gesellschafts- und Staatsaufgabe war, dort keimen alte Rollenmuster wieder auf. Du findest keinen Kitaplatz? "Na, dann bleib doch zuhause, das ist eh besser für das Kind!" Die Altenpflege ist nicht finanzierbar? "Hole deine Eltern doch zu dir nach Hause und arbeite in Teilzeit! Ist doch eh besser als die Massenabfertigung in den Heimen."
Diese Geringschätzung der Reproduktionsarbeit, deren Wurzeln selbstverständlich älter sind als der Neoliberalismus, ja älter als der Kapitalismus, fällt bei Rechtsautoritären und Konservativen ebenfalls auf fruchtbaren Boden. Sie mischt sich dort mit nach wie vor weit verbreiteten sexistischen Klischees und alten patriarchalen Machtverhältnissen. Der Antifeminismus der neuen Rechten ist daher keine Neuerscheinung, sondern eine gefährliche Übersetzung weit verbreiteter Denkmuster und ökonomischer Zwänge in frauenfeindliche Aggressivität. Es ist daher kein Zufall, dass die Bewegung der Abtreibungsgegnerinnen erstarkt, dass Unterhaltungen über sexualisierte Gewalt in den Medien nahezu nur noch rassistisch geführt werden und dass politisch aktive Frauen aus allen demokratischen Lagern sich zunehmend - diesseits und jenseits der sozialen Medien - widerlicher Beleidigungen und Angriffen ausgesetzt sehen.
Sämtliche feministische Kernanliegen lassen sich zu materiellen Faktoren in Bezug setzen. Das zeigt sich auch in der Gewalt, die Frauen im privaten wie öffentlichen Umfeld erleben. Besonders wahrscheinlich wird Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen dann, wenn die Frau ankündigt, sich zu trennen oder mehr in ihrem Beruf zu arbeiten - wenn sie also droht als häusliche Arbeitskraft zu verschwinden und ihre finanzielle Abhängigkeit zu lösen. Und das ist kein kleines Problem: Letztes Jahr hat in Deutschland im Durchschnitt jeden Tag ein Mann versucht seine Partnerin oder Ex-Partnerin zu töten.
Auch im Beruf wird Gewalt gegen Frauen - oft sexualisiert - als Unterdrückungsmittel eingesetzt. Am häufigsten passiert das dort, wo das Machtgefälle und die Verwundbarkeit am größten ist, etwa im Niedriglohnsektor, im Gastronomie- und im Pflegebereich. Ein Beispiel, das wir alle kennen, weil es sich oft für alle sichtbar abspielt: Kellnerinnen, die sich nicht gegen übergriffige Männer wehren, weil sie auf das Trinkgeld angewiesen sind.
Aus diesen Gründen ist feministische Politik von links auch eine Politik für alle Frauen, ja für die gesamte Gesellschaft. Darin unterscheidet sie sich vom bürgerlich-liberalen Feminismus für einige wenige Frauen.
Für uns als LINKE bedeutet das: Feminismus ist kein Projekt, das sich um die Beseitigung von vereinzelten Missständen für Minderheiten bemüht - jedenfalls nicht mehr als sämtliche linke Politik sich in der Praxis auf einzelne Missstände fokussiert und gleichzeitig das große Ganze im Auge behalten muss. Selbstverständlich konzentrieren wir uns in den Ortsverbänden auf Projekte, die vor Ort gerade besonders drängen. Selbstverständlich tun wir dies auch in Parlamenten und anderen größeren Zusammenhängen, in Form von Fachbereichen, um Detailwissen sicherzustellen und um Kontakte zu anderen gesellschaftlichen Akteuren in diesem Themenbereich zu halten. Aber niemand käme auf die Idee, die Mietenpolitik als abgesondertes, von der linken Grundfrage getrenntes Projekt zu betrachten. Wieso tun wir dies mit dem Feminismus?
Eine Politik für den Ausbau der sozialstaatlichen Absicherung und der öffentlichen, kostenlosen Daseinsvorsorge ist nicht jenseits des linken Feminismus angesiedelt und der linke Feminismus nicht jenseits dieser Politik. Der Feminismus ist ein elementarer Baustein; er muss als Linie durch die Arbeitsmarkt-, Sozial-. Renten-, ja allgemein Wirtschafts- und Finanzpolitik hindurchgezogen werden. Dass das nicht nur Frauen dient, weil eine Befreiung der Geschlechter letztlich alle befreien wird, sollte allen klar sein.
Es existiert aber ein weiterer entscheidender Grund, wieso die Partei sich klar feministisch verstehen muss. Die feministische Bewegung hat in den letzten Jahren ebenfalls stark an Zulauf gewonnen. Es liegt an uns, diese Kraft zu bündeln und in eine linke, klassenbewusste Richtung zu lenken. Nicht nur, um die Energie der Bewegung aufzugreifen und sich gegenseitig zu befruchten. Die Mobilisierung zeigt auch, dass der Zusammenhang zwischen neoliberaler Entsolidarisierung und Aufstieg der im Kern antifeministischen Rechten dazu führt, dass der Feminismus zunehmend zu einem zentralen Kampffeld wird: Erstens im Kampf für die öffentliche Daseinsvorsorge und zweitens im Kampf gegen den Faschismus.
Cornelia Möhring, stellvertretende Fraktionsvorsitzende und Frauenpolitische Sprecherin; Judith Daniel, Referentin für feministische Politik für die Fraktion DIE LINKE. Im Bundestag.