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Geraer Sozialistischer Dialog

So radikal sein wie die Wirklichkeit

Beitrag zur Strategiedebatte

  • „Wie beschreibt ihr den aktuellen gesellschaftlichen Umbruch und wie seht ihr hierbei unsere Rolle als Partei?“

 

„Der Kapitalismus hat in den Jahrhunderten seiner Existenz unermesslichen Reichtum hervorgebracht und in vielen Ländern den Wohlstand großer Teile der Bevölkerung erhöht. Zugleich bleiben Milliarden Menschen von diesem Reichtum ausgeschlossen. Die soziale Ungleichheit ist größer geworden, die Kluft zwischen Armut und Reichtum klafft immer weiter auseinander. Das gilt national und erst recht international.“
(Programm DIE LINKE, Erfurt 2011)

 

Eine Ära des Friedens, „Blühende Landschaften“ und „Freiheit“ sind zentrale Verheißungen, die nach dem scheinbaren Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus von den damaligen Triumphatoren gemacht wurden.
Pustekuchen.
Die internationalen Beziehungen sind von Kriegen, Kriegsdrohungen, Aufrüstung und Waffengeschäften bestimmt, wie seit den beiden Weltkriegen nicht mehr. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist sogar im reichen Deutschland so groß, wie zuletzt im Kaiserreich – ganz zu schweigen von den mörderischen Dimensionen internationaler Ungleichheit. Und die „Freiheit“ offenbart sich einerseits als eben diese zur grenzenlosen Ausbeutung und Profitsteigerung und andererseits als Nötigung zur deprimierenden Vereinzelung – mit sozialer Freiheit zur gemeinsamen Entwicklung und persönlichen Entfaltung hat das nichts zu tun.
Diese Übel wurden seit der „Bankenkrise“ 2008 nicht gemindert, sondern weiter zugespitzt. Weil er sich ökonomisch zu Tode gesiegt hat und wegen seiner immer offenkundigeren Verlogenheit befindet sich der neoliberale Kapitalismus in einer tiefen Hegemoniekrise. Im Juli 2015 äußerte der damaligen EU-Ratspräsident Donald Tusk: „Die Situation erinnert mich an 1968. Es gibt in Europa eine weitverbreitete Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen, die schnell in eine revolutionäre Stimmung umschlagen kann. Es wird die Illusion erweckt, es gebe eine Alternative zu unserem Wirtschaftssystem, ohne Sparpolitik und Einschränkungen.“ (FAZ, 17.07.2015.)  
 

Anhand der Wahlergebnisse bei den jüngsten Wahlen alleine von einer Krise der LINKEN auszugehen, greift daher zu kurz. Die ökonomische und hegemoniale Krise des Neoliberalismus erschüttert das öffentliche Vertrauen in das parlamentarische System sowie in die dort etablierten Parteien. Die SPD kämpft um ihre Zukunft, die CDU kann erstmals in der Nachkriegszeit nicht einfach als „die Volkspartei“ Machtworte sprechen, die FDP dümpelt im digitalen Nirwana herum. Die Grünen bilden momentan eine Ausnahme, weil sie zumindest an einer zentralen Menschheitsfrage (Klima) kurzfristig den Eindruck erwecken können, antworten zu haben, die der Problemdimension entsprechen – das wird sich geben.

 

Der LINKEN gelingt es in dieser Umbruch-Situation nicht, größere Teile der Unzufriedenen von tatsächlichen Veränderungen zu überzeugen, die der Tiefe der gesellschaftlichen Konflikte gerecht werden. Stattdessen hängen wir fest in einem Dualismus zwischen Utopie und Kleinkorrekturen. Einerseits sozialistische Perspektive, eher als Ideal und selten ohne den beschwichtigenden Zusatz „aber in näherer Zukunft nicht zu machen“. Andererseits soziale Milderungen und Reformen, die bisweilen achtenswert sind, aber doch nicht geeignet, substanzielle Zuversicht und öffentliches Engagement für eine erfreuliche gesamtgesellschaftliche Grundentwicklung zu initiieren.
Dabei ist die LINKE programmatisch und praktisch in den letzten Jahren nicht vor allem systemkonformer geworden. Die realpolitischen Ärgernisse in Brandenburg und Thüringen aus Regierungsbeteiligungen der LINKEN in den 2010ern sind nicht größer, als jene der PDS in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin zur Jahrtausendwende.
Die LINKE ist als „parlamentarische Kümmererpartei“ stagniert, während die Gesellschaft sich weiterentwickelt hat. Wir haben uns damit abgefunden, Korrektiv zu sein – was in den 1990ern noch als frech erschien – und nehmen uns selber nicht darin ernst, die gesellschaftliche Alternative wirklich durchzusetzen – was heute auf der Tagesordnung steht.

Die LINKE muss ihr Erfurter Programm wieder neu ernst nehmen, auf Höhe der heutige Konflikt- und Krisentiefe zur Geltung bringen und reale Maßnahmen radikaler Kapitalismusreform erstreiten.

 

  • Wie können wir der Verfestigung der gesellschaftlichen Rechtsentwicklung und dem Erstarken der extremen Rechten entgegenwirken?

 

 

„Wir sind und werden nicht wie jene Parteien, die sich devot den Wünschen der Wirtschaftsmächtigen unterwerfen und gerade deshalb kaum noch voneinander unterscheidbar sind.
Wir verfolgen ein konkretes Ziel: Wir kämpfen für eine Gesellschaft, in der kein Kind in Armut aufwachsen muss, in der alle Menschen selbstbestimmt in Frieden, Würde und sozialer Sicherheit leben und die gesellschaftlichen Verhältnisse demokratisch gestalten können. Um dies zu erreichen, brauchen wir ein anderes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem: den demokratischen Sozialismus.“

(a.a.O.)

 

Die Rechten sind stark, weil die LINKE schwach ist – sie ist zu bescheiden.

Ob der Kapitalist Trump, der adelige Boris Johnson oder der einstige Staatssekretär Gauland: Den Rechten gelingt der öffentliche Betrug, sich als Antipode des Establishments und „Alternative“ zu einem maroden System zu inszenieren – ausgerechnet sie!
Ohne jede Frage bedarf es sozialer Verbesserungen, um den Rechten die Bezugspunkte für ihre Demagogie zu entziehen, und es bedarf der Stärkung solidarischer Kultur und der Aufklärung für ein egalitäres und emanzipatorisches Menschenbild gegen die von Rechts propagierte Natürlichkeit der Ungleichheit und Konkurrenz. „Nazis raus aus den Köpfen“ – hier ist sich die Partei weitgehend einig.
Die besondere Verantwortung der LINKEN besteht jedoch darin, die wirklich soziale und solidarische Alternative zum Bestehenden offensiv zu vertreten, so dass die Verlogenheit der Rechten offenbar wird.
Es ist daher sträflich, wenn der LINKEN-Staatsrat Benjamin Hoff im Interview mit der FAZ die Lügen der Rechten auch noch verdoppelt:
  „Meine Partei hat über viele Jahre hinweg dazu beigetragen, dass Ostdeutsche in die Gesellschaft integriert wurden, weil die PDS, die heutige „Linke“, sich als eine sozialistische Partei innerhalb dieser Gesellschaft versteht. Die AfD versteht sich nicht als Teil dieser Gesellschaft. Sie will, wie die NPD, diese Gesellschaft überwinden“ (FAZ. 17.09.2019)

 

Es sei dahingestellt, was eine Partei „außerhalb“ der Gesellschaft sein soll. Entscheidend ist: Das Rechte – und der Faschismus als sein Extrem – ist keine Alternative zum Kapitalismus, sondern die härteste Form seiner Aufrechterhaltung.
Diese Gesellschaft überwinden zu wollen, ist das Gute und Notwendige, was außer den Linken niemand vertritt.
Das penetrante Schönbeten des heutigen Deutschland können wir getrost Frau Merkel und ihren Gesinnungspartnern überlassen.
Zu einer neuen Offensive gegen Rechts gehört daher auch, zu beenden, bei der BRD um Verzeihung für die DDR zu bitten. Gerade im Antifaschismus und Kampf gegen Rechts war der Osten der bessere Teil: Denazifizierung, Demonopolisierung, Demilitarisierung.

 

  • Wie sieht heute eine realistische und an die Wurzel der Probleme gehende linke Politik für Klimagerechtigkeit und anderes Wirtschaften, für Frieden und globale Solidarität aus?

„Eine entscheidende Frage gesellschaftlicher Veränderung ist und bleibt die Eigentumsfrage. Wirtschaftliche Macht bedeutet auch politische Macht. Solange die Entscheidungen großer Unternehmen sich an den Renditewünschen statt am Wohl der Allgemeinheit orientieren, ist Politik erpressbar und Demokratie wird ausgehöhlt. Eine soziale, friedliche, umweltgerechte, demokratische Gesellschaft erfordert, dass die ökonomische Macht derer, die an Armut, Ausbeutung, Naturzerstörung, Rüstung und Kriegen verdienen, zurückgedrängt und überwunden wird.“
(a.a.O.)

 

Was nun möge radikale Kapitalismusreform sein?
Sie bedeutet:

- echte soziale und kulturelle dauerhafte Verbesserungen,
- Zurückdrängung der ökonomischen und kulturellen Macht der Herrschenden,

- die Weitung der Ansprüche und die Stärkung solidarischen Engagements über die erreichten Reformen hinaus.

 

Anstelle der „Erzählungen“ bedarf es eines Sofortprogramms mit akzentuierter Schwerpunktsetzung:

 

Anti-Austerität – international solidarisch für das Ende der schwarzen Null und der Schuldenbremse, für die gesellschaftlich sinnvolle Verwendung des gesellschaftlich erarbeiteten Reichtums, als Redemokratisierung und Kampf gegen Rechts. In Einheit mit Vermögens- und Spekulationssteuer, sowie einer reformierten Einkommenssteuer, als Umkehr der Umverteilung von Unten nach oben.

 

Frieden – in Zusammenführung von antiimperialistischer Analyse und Parteilichkeit sowie pazifistischen Konsequenzen angesichts des atomaren Overkills.
Verbot von Rüstungsexporten mit der Perspektive des Rüstungsverbots und Ende aller Auslandseinsätze.

 

Sozial – radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich, sanktionsfreie soziale Leistungen und die Erhöhung des Arbeitgeber-Anteils bei den Sozialsystemen. 

 

Rekommunalisierung – Wohnen, Wasser, Watt und zu aller erst Gesundheit! müssen in öffentliche Hand mit der Perspektive, die Eigentumsfrage auch über die Daseinsvorsorge hinaus zu stellen. 

 

Ökologie – für die Einheit von Sozialem, Frieden und ökologischer Nachhaltigkeit: Offensive für gesellschaftliche Verfügung in Produktion, Distribution und Reproduktion statt Bescheiden für Konsumverzicht. Ein nachhaltiges integriertes Verkehrssystem, mit aufeinander abgestimmtem ÖPNV, Fern- und Güterverkehr, Fuss, Fahrrad und Individual-Motorisierung, gelingt nur als öffentlich gemeinsam organisierter Prozess.

 

Aufklärerische Bildung – für solidarisches Lernen und die Entwicklung mündiger Persönlichkeiten in kritischer gesellschaftlicher Verantwortung. Gebührenfreie KiTa für alle ab dem ersten Jahr, eine Schule für Alle, selektionsfreier Übergang vom Bachelor zum Master und Bildung ohne Bundeswehr, sondern mit Zivilklausel.

 

 

  • Wie verbinden wir über die Spaltung von Klassen hinweg und spielen nicht die einen gegen die anderen (Gruppen, Milieus, Beschäftigtengruppen) aus?

 

„Wir streben eine Veränderung der Macht- und Eigentumsverhältnisse an. Hierfür ist es erforderlich, die Solidarität der Lohnabhängigen herzustellen, von den Kernbelegschaften bis zu den Erwerbslosen und prekär Beschäftigten. Eine wichtige Aufgabe der LINKEN besteht darin, deren gemeinsame Interessen zu betonen.“

(a.a.O.)

 

Die Klasseninteressen des Monopolkapitals führen zur Spaltung unter den arbeitenden Menschen, mit diesen Interessen ist keine Verbindung möglich!

Die Aufgabe der Partei in der aktuellen historischen Etappe ist im Erfurter Programm hervorragend gefasst in: „Aus passivem Unmut aktive Gegenwehr machen“. Gegen das neoliberale Gebot des „Privaten“ und dem Postulat des Endes der Geschichte, gilt es in Programmatik, Menschenbild und Aktion für die Gesellschaftlichkeit des Menschen und das Menschliche des gemeinsamen gesellschaftlichen Eingreifens aufzuklären und zu kämpfen. Diesem Zweck muss das Handeln der Partei überall dienen – in Parlamenten, auf der Straße, am Arbeitsplatz, in der Schule, etc. Ein radikales Reformprogramm ist dabei keine Frage von Milieus, sondern involviert die gesamte Klasse der Lohnabhängigen, mit Wirkung bis hinein zu kleinen „Selbstständigen“. 1968ff hat gezeigt: soziale Verbesserungen und kulturelle Emanzipation bilden eine Einheit solidarischer Entwicklung. 

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