Unsere Sprachlosigkeit in der Agrar- und Ernährungsfrage überwinden
Wenn wir nicht umgehend handeln und eine Agrarwende zum Schutz von Mensch und Natur einleiten, werden die Folgen katastrophal sein. Schon jetzt leben wir auf Kosten des globalen Südens und unserer Zukunft. Die Probleme sind weitreichend. Zum einen verseucht die industrielle Landwirtschaft unsere Gemeingüter, vor allem Wasser, Boden und Luft und verursacht einen enormen Anteil der weltweiten Treibhausgasemissionen. Zum anderen führen die fehlgeleitete deutsche und europäische Agrarpolitik und die nahezu monopolistischen Strukturen dazu, dass Landwirt*innen unter enormem wirtschaftlichen Druck stehen und ihnen oft keine Handlungsmöglichkeiten bleiben, um auf eine weniger zerstörerische Produktion umzustellen. Nicht nur Futtermittelimporte aus brandgerodeten Regenwaldgebieten, irrsinnige Freihandelsabkommen und Agrarsubventionen gefährden unsere Ernährungssicherheit, sondern auch der Klimawandel selbst. Im Agrarsystem zeigt sich somit zugespitzt die aktuelle Krise des Kapitalismus.
DIE LINKE ist sprachlos in einer Debatte, die von der Frontstellung zwischen konservativem "Ich und mein Recht auf Schnitzel" einerseits, und einem verkürzten grün-individualistischen Ansatz, der die strukturelle Krise einseitig auf das Fehlverhalten Einzelner reduziert, geprägt ist. Dabei braucht es gerade jetzt eine Partei, die auch in den Bereichen Ernährung und Landwirtschaft die Systemfrage konsequent stellt. Unser Bekenntnis zu Gerechtigkeit und Solidarität muss sich auch in einer linken Agrar- und Ernährungspolitik widerspiegeln.
Was lernen wir aus den Bauernprotesten 2019?
Die Bauernproteste 2019 des Bündnisses "Land schafft Verbindung" bestätigen, dass im Bereich Landwirtschaft und Ernährung seit vielen Jahren etwas gewaltig schief läuft. Die Agrarpolitik ist auf eine möglichst billige Warenproduktion für einen anonymen Weltmarkt ausgerichtet. Viele Landwirt*innen, egal ob groß oder klein, öko oder konventionell, tierhaltend oder Ackerbau treibend, produzieren am unteren Ende der Wertschöpfungskette. Sie stehen gegenüber den Saatgut- und Pestizidherstellern, der Molkerei- und Schlachtindustrie, Zwischenhändlern und dem Lebensmitteleinzelhandel finanziell mit dem Rücken an der Wand: ein Zustand, der sich durch verschiedene Freihandelsabkommen verschärfen wird. Der aktuelle Protest stellt diverse, teils widersprüchliche Forderungen auf. Er richtet sich unter anderem gegen mehr Klima- und Artenschutz auf den Äckern sowie gegen das Mercosur-Abkommen.
Dabei ist vielen Landwirt*innen mittlerweile bewusst, dass der Deutsche Bauernverband (DVB) nicht die Interessen aller Betriebe vertritt. Die Bedingungen unterscheiden sich schließlich stark voneinander: Konventionelle Großbetriebe werden z.B. von der Agrarlobby vertreten und profitieren viel stärker als die Mittleren und Kleinen von der pauschalen Flächenbezuschussung der EU-Agrarsubventionen, während letztere im Preiskampf aus dem Markt gedrängt werden. Die anscheinend verlorengegangene Wertschätzung für die tägliche Arbeit zur Ernährung der Bevölkerung trägt den Rest zur Empörung bei. Adressatin des Protests ist in erster Linie die Union, traditionelle Bündnispartnerin des DBV, die in der Vergangenheit für eine verlässliche Beibehaltung des Status quo stand, und sich nun von Grünen und SPD eine grüne Agrarpolitik habe aufzwingen lassen. Während FDP und AfD versuchen opportunistisch den Protest zu instrumentalisieren, indem sie sich scheinbar schützend vor die Agrarbetriebe stellen, aber mit ihrer Politik weder eine Existenz noch die notwendige ökologische Transformation sichern.
DIE LINKE sollte den Landwirt*innen und unter der Notwendigkeit einer ökologischen Transformation die Hand reichen. Wir sollten mit den progressiven Landwirt*innen reden, ihnen zuhören, mit ihnen Konzepte für bessere Arbeitsbedingungen, faireren, lokalen Handel und den Erhalt ihres Landes entwickeln und auf der Straße, in den Betrieben, und in den Parlamenten umsetzen. Die Landwirtschaft muss aus der Umklammerung des Kapitalismus befreit und zukunftsfähig gestaltet werden. Dazu müssen die Landwirt*innen als arbeitende Bevölkerung in den ländlichen Regionen DIE LINKE als Bündnispartnerin wahrnehmen, die sich für ihre Belange einsetzt, ihre Wertschöpfung für die Region unterstützt und sie dafür auch honoriert.
Konkret werden und nicht verstecken!
Wir brauchen einen gerechten Übergang (just transition) in ein nachhaltiges Agrar- und Ernährungssystem, das sich an den Bedürfnissen der Beschäftigten in der Landwirtschaft und der Verbraucher*innen orientiert. Gesunde Ernährung ist ein Grundbedürfnis, das in unserer Partei bisher zu wenig Beachtung bekommt.
Die Landwirtschafts- und Ernährungsindustrie, insbesondere die Produktion tierischer Nahrungsmittel, tragen einen erheblichen Teil zur globalen Klimakrise bei, bedeuten Ausbeutung für Menschen und Tiere und führen zu enormer Ressourcenverschwendung. Auch wird mehr produziert als notwendig. Überschüsse werden exportiert und zerstören lokale Märkte im globalen Süden. Die Arbeitsbedingungen entlang der gesamten Lieferkette, sei es bei der Ernte, in der Nahrungsmittelverarbeitung oder im Lebensmitteleinzelhandel, sind prekär. Einem neoliberalen Weiter-so einerseits und einem grünen Lifestyle-Individualismus muss DIE LINKE das Leitbild eines gerechten Ernährungssystems gegenüberstellen. Gesundes Essen müssen wir zusammenbringen mit guter Arbeit. Unserer aller Lebensgrundlagen müssen geschützt werden.
Deswegen sollte DIE LINKE konkrete Politikvorschläge in Zukunft offensiver vertreten:
1. Gesunde Ernährung für alle - Lebensmittel müssen bezahlbar und gesund sein, aber auch ökologisch. Dafür bedarf es nicht nur einer Förderung der Landwirt*innen, sondern auch einer Verbesserung von Lebensmittelkontrollen, eine Heraufsetzung der Mindeststandards und eine Senkung der Höchstwerte von Chemikalien und anderen Verunreinigungen. Neben fairen Abnahmepreisen bedarf es einer Überprüfung staatlicher Mechanismen zur Preisregulierung, um bezahlbare Lebensmittel für ärmere Haushalte zu garantieren.
2. Preisdruck stoppen & Konzernmacht begrenzen - Voraussetzung für eine nachhaltige und gerechte Landwirtschaft ist es, die Marktmacht des (Einzel-)Handels zu brechen. Nur 13,6% des Endpreises bleibt beim landwirtschaftlichen Betrieb, über 50% der Marge greifen EDEKA, REWE, LIDL und ALDI ab (Kleine Anfrage 19/15354). DIE LINKE muss kreativer und gleichzeitig konkreter darin werden, wie die Konzernmacht gebrochen werden kann/soll und wie sie sich ein gemeinschaftliches Ernährungssystem vorstellt. Wir brauchen verschiedene Formen der Regulierung– Kartellrecht, Verbot unfairer Handelspraktiken, Mindestpreise zur Deckung der Produktionskosten.
3. Regionale Kreisläufe aufbauen - DIE LINKE darf nicht dabei stehenbleiben, Freihandelsabkommen zu kritisieren, sondern muss sich für konkrete Strategien zur Regionalisierung einsetzten: Schrittweise Reduktion von widersprüchlichen Subventionen und Förderprogrammen; Reduktion von landwirtschaftlichen Importen; Diversifizierung der Landwirtschaft; Existenzsicherung und privilegierter Flächenzugang für Kleinbetriebe; Entprivatisierung der Agrarkonzerne zugunsten kooperativer Strukturen; Förderung geschlossener Verarbeitungsketten im 100-km-Radius; Förderung nicht-kommerzieller lokaler Verteilstrukturen.
4. Investieren in den Umbau - Die erforderlichen Umbrüche müssen von Investitionsprogrammen begleitet werden, die den Wechsel zur nachhaltigen Produktion überhaupt erst ermöglichen. Dabei muss DIE LINKE auch die Debatte zur neuen Runde der EU-Agrarreform führen: die Milliarden an EU Agrarsubventionen dürfen nicht primär an die Fläche gekoppelt, sondern müssen gezielt genutzt werden, um sozial- und ökologisch- wirtschafende Betriebe zu unterstützen. Es muss massiv in die Weiterbildung von Landwirt*innen und Beratung zur Umstellung investiert werden. Landwirt*innen müssen unbedingt dafür entlohnt werden, Gebiete wieder zu „renaturalisieren“ und somit Senken zu schaffen (z.B. durch Aufforstung von Mischwald).
5. Gute Arbeit sicherstellen - Jeder neunte Arbeitsplatz in Deutschland (ca. 4,5 Millionen) hängt direkt oder indirekt mit Landwirtschaft und Ernährungswirtschaft zusammen. Das ist ein vielfaches von der Automobilindistrie.. Diese Menschen müssen von ihrer Arbeit gut leben können. DIE LINKE muss daher mit den Gewerkschaften gemeinsam Vorschläge entwickeln, um prekäre Arbeit gezielt im Agrar- und Ernährungssystem zu thematisieren.
Der Wandel in der Landwirtschaft findet ohnehin statt, wir müssen ihn endlich gerecht, solidarisch und ökologisch gestalten.
Arbeitsgruppe Agrar der BAG Klimagerechtigkeit,
Didem Aydurmus, Fredi Büks, Steffen Kühne, Benjamin Luig, Aaron Scheid, Matthias Schepler, Katja Voigt,
Quellen:
ec.europa.eu/germany/news/20190701-eu-und-mercosur-staaten-umfassendes-freihandelsabkommen_de /
weser-kurier.de/deutschland-welt/deutschland-welt-politik_artikel,-ein-brandbeschleuniger-fuer-die-amazonasregion-_arid,1863386.html
taz.de/Grosse-Bauernproteste-auf-AfD-Linie/!5633870/
reset.org/knowledge/agrarhandel
weltagrarbericht.de/themen-des-weltagrarberichts/weltmarkt-und-handel.html
zeit.de/2018/12/einzelhandel-edeka-marktmacht-supermarktketten-lieferanten
bmel.de/SharedDocs/Downloads/Broschueren/DatenundFakten.pdf?__blob=publicationFile